Kirche aktuell

Gedanken zum neuen Jahr Scham muss die Seite wechseln

Bereichsleiterin Soziales und Bildung, verantwortlich für Kultursponsoring
Susanne Brauer
Susanne Brauer
Sie thematisieren Gewalt an Frauen und die Sicht auf Opfer und Täter: der Prozess gegen die Vergewaltiger der Gisèle Pelicot und die Aktionskunst der Marina Abramović. Die Philosophin und Bereichsleiterin Susanne Brauer setzt beide in Beziehung zur Verantwortung der Kirche gegenüber Missbrauch im eigenen Haus.
07. Januar 2025

Es ist still geworden um das Thema Missbrauch. Bei der Jahresveranstaltung in der Paulus Akademie Anfang September halbierte man den Saal, um ihn zu füllen, und die Spitzen von Bistum und Staatskirche schickten ihre Vertreter.

Viele in der Kirche haben das Thema Missbrauch satt. «Wir gehören doch zu den Guten», rufen sie, «macht uns nicht dauernd schlecht und nehmt uns nicht in Sippenhaft für etwas, was nur wenige verbrochen haben».

Ein Kulturwandel wurde angekündigt, doch scheinen weder die Basis noch die kirchlichen Autoritäten wirklich daran zu glauben. In einer Weltkirche ist alles so kompliziert, dass man ganz diplomatisch die Füsse stillhalten und abwarten kann, bis «etwas da oben» geschieht – und mit diesem Verhalten aus institutioneller Sicht alles richtig macht.  Der eigenen Handlungs- und Wirkungsmacht wird wenig Glaube geschenkt. So mag es jedenfalls von aussen erscheinen.

Zeit, eine Heldin zu küren

Auch in Frankreich hegen manche Hoffnung auf einen Kulturwandel, der Missbrauch und sexuelle Gewalt in der Gesellschaft stärker sichtbar machen und weiter zurückdrängen soll. Hoffnungsträgerin ist eine Frau, Gisèle Pelicot. Die 72-jährige Französin wurde während zehn Jahren von ihrem damaligen Ehemann betäubt, vergewaltigt und mindestens 83 weiteren Männern im bewusstlosen Zustand für eine Vergewaltigung zugeführt. Kurz vor Weihnachten wurden nun der Ehemann und 50 weitere Täter verurteilt. Der Prozess, der in einer Provinzstadt begann, rückte ins Zentrum internationaler Berichterstattung, weil Gisèle Pelicot entschied, ihn öffentlich zu führen – und zusammen mit dieser Öffentlichkeit die zahllosen Videos anzuschauen, mit denen Dominique Pelicot die Vergewaltigungen seiner Ehefrau dokumentierte. Bei den mitverurteilten Männern handelt es sich nicht um «Perverse», die er für diese Verbrechen in ganz Frankreich zusammensuchen musste. Es waren Männer aus der Region, zwischen 26 und 74 Jahre alt und aus allen Gesellschaftsschichten stammend, über die Hälfte von ihnen Väter. 

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Der Tages Anzeiger berichtete u.a. am 30. November 2024 über den Prozess gegen Pelicots Vergewaltiger (Ausriss)

Die Tatbereitschaft zu Missbrauch und sexueller Gewalt lässt sich nicht auslagern auf eine «Randgruppe», mit dem der Rest der Gesellschaft nichts zu tun hätte. Sie besteht mitten unter uns. Das hat Gisèle Pelicot uns vor Augen geführt. Die Stärke, ihre Versehrungen über sämtliche Medienkanäle bekannt zu machen, hat sie aus der Überzeugung gewonnen, dass sich nicht die Opfer von Gewalttaten schämen sollen, sondern die Täter und Täterinnen. Ihr Zitat «Die Scham muss die Seite wechseln» drückt eine Haltung aus, die eine Aufarbeitung von Missbrauch erst möglich macht, weil man bereit ist, auch da hinzuschauen, wo es einer Gesellschaft oder einer Organisation weh tut. Es wird Zeit, eine Heldin zu küren – auch für die Kirche.

Vom Objekt zum Subjekt. Oder: Verantwortung übernehmen

Neapel im Jahr 1974. Im Kulturhaus Studio Morra liegen 72 Objekte auf einem Tisch, dahinter steht eine junge Künstlerin aus Jugoslawien. Mit einer schriftlichen Anweisung forderte sie das Publikum auf, sie als Objekt zu betrachten und die Gegenstände an ihr zu verwenden, wie es ihm beliebt. Sechs Stunden lang. Die Künstlerin übernähme für diesen Zeitraum volle Verantwortung. Am Ende war sie halb entblösst, durch Rosendornen und Rasierklingen verletzt, hatte sexualisierte Übergriffe erlitten, und hielt eine geladene Pistole in der Hand, auf sich gerichtet, ihr Finger am Abzug. Als sie, wie angekündigt, nach den sechs Stunden aus ihrer Passivität erwacht und auf das Publikum zugingt, rannte es weg.

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Marina Abramovićs Performance "Rhythm 0" von 1974, diskutiert in der SRF-Sendung Sternstunde Philosophie (Screenshot)

Kunstgalerien und Museen gelten als Perlen menschlicher Kultur, deren Besucherinnen und Besucher als zivilisiert. Dies war auch in Neapel der Fall. «Wir gehören zu den Guten!», hätte auch dieses Publikum rufen können. Marina Abramović hat aber mit ihrer Performance gezeigt, dass Kulturhäuser nicht automatisch vor Gewalt und Übergriffen schützen. Der ethische Grundsatz, den Menschen nie bloss als Objekt, sondern immer als Subjekt zu behandeln, kann leicht ins Wanken geraten: hier durch die vermeintliche Erlaubnis der Künstlerin, es dürfe alles mit ihr gemacht werden. Aus ethischer Sicht wird aber das Publikum dadurch keineswegs von seiner moralischen Verantwortung für sein Handeln (oder Zuschauen) befreit. Eine institutionelle Blindheit gegenüber der eigenen Anfälligkeit für verletzendes, gewaltsames Verhalten mag vielleicht besonders gross sein in Einrichtungen, in denen man sich selbst für «die Guten» hält. 

Wenn die Scham tatsächlich die Seite wechseln soll, dann muss das Publikum stehen bleiben,sich konfrontieren lassen mit den Subjekten, denen Leid widerfahren ist, und Mitverantwortung in den Häusern übernehmen, in denen es zuhause ist.

Die Retrospektive zu  Marina Abramovićs Performance-Kunst ist im Kunsthaus Zürich noch bis zum 16. Februar zu sehen.