Ausgeglaubt
Uns war klar, dass nach den Enthüllungen in anderen Ländern, die Katholische Kirche der Schweiz nicht als Unschuldslamm dastehen würde. Doch das Ausmass und das Kalkül, mit dem Missbrauch auch bei uns begangen wurde und immer noch wird, direkt und unverblümt vor Augen geführt zu bekommen, rüttelt auf und lässt uns unser Weltbild hinterfragen. Ich bin wütend, desillusioniert und erschüttert. Und so sind es auch viele Kolleginnen und Kollegen.
Doch wer von uns, der es nicht selbst erlebt hat, kann das Leid der Opfer wirklich verstehen? Keine noch so gut verfasste Berichterstattung kann die Emotionen der Betroffenen wirklich nachempfinden. Das Forschungsteam der Uni Zürich arbeitet für die Missbrauchstudie deshalb unter anderem mit der Oral History Methode, bei der Menschen, die eine traumatische Erfahrung durchlebt haben, frei und mit eigner Stimme über das Erlebte und dessen Folgen sprechen können. Diese Methode der Aufzeichnung befürwortet auch die Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im Kirchlichen Umfeld. «Denn solche Aufzeichnungen sind für jetzt und heute sowie für die Nachwelt», betont die Missbrauchsbetroffene Vreni Peterer am Schluss ihres Statements an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie am Dienstag.
Zwar erst durch den gesellschaftlichen Druck, der mit Veröffentlichung der Studie entstanden ist, aber immerhin, hat die Katholische Kirche nun verschiedene Massnahmen zur Prävention und Aufarbeitung von Missbrauch getroffen. Eine, die sofort greift, ist das Meldesystem «Kirche schaut hin», dass die Zürcher Kirche diese Woche eingeführt hat. Hier kann anonym auf selbst erfahrenes oder beobachtetes Fehlverhalten im kirchlichen Umfeld hingewiesen werden.
Ich selbst bin nicht kirchlich sozialisiert aufgewachsen. Zum Glück, möchte ich mittlerweile sagen. Erst mit siebzehn Jahren kam ich über die Pfadfinder mit der Katholischen Kirche in Berührung. Was ich seitdem vor allem mit Kirche verbinde, sind die Menschen und die gemeinsamen Ideale. Gutes tun, sich für Natur und Gesellschaft einsetzen. Die vollständige Struktur des Kollos Kirche wird mir erst in den letzten Tagen wieder so richtig bewusst.
Eine Frau, die die Kirche und ihre Strukturen bestens kennt und sich seit jeher für eine offene, lebensnahe Kirche eingesetzt hat, ist die Theologin und Ritualbegleiterin Monika Schmid. Damit ist sie bereits öfters angeeckt und sogar abgestraft worden.
«Bereits 2008 habe ich in einem Wort zum Sonntag die ganze Thematik, die jetzt hochkommt, thematisiert und habe ganz klar gesagt: ‚In der römisch-katholischen Kirche stimmt etwas nicht!‘», sagt die ehemalige Gemeindeleiterin aus Effretikon heute in einem eindrücklichen Interview auf Blicktv.
Zur Frauenfrage, die zu den zentralen Problemen der systemischen Kirchenkrise zählt veranstaltet die katholische Akademie Dresden an diesem Wochenende eine internationale Konferenz, an der auch online teilgenommen werden kann. Gottes starke Töchter – Frauen und das Amt im Katholizismus beschäftigt sich damit, welche strukturellen Grenzen und Denkblockaden zu überwinden und welche Herausforderungen zu meistern sind, damit die Katholische Kirche eine Zukunft hat.
Der in den letzten Tagen vieldiskutierte Strukturwandel ist dringend notwendig. In einem Interview mit dem «Boten der Urschweiz» sprach der Präventionsbeauftragte und Sprecher des Gremiums «Sexuelle Übergriffe», Stefan Loppacher, offen darüber, dass er bis zu 15.000 Fälle sexuellen Missbrauchs erwartet. Vor allem das kirchliche Strafrecht und der Umgang mit Sexualität müssen sich grundsätzlich ändern. Die Nullfehler-Kultur und der Pflichtzölibat sind einfach nicht mehr zeitgemäss.
Hier sind wir alle gefragt. Denn «für einen Kulturwandel braucht es die Masse», meint Loppacher.
Das Thema sexueller Missbrauch im Kirchlichen Umfeld, wird am Montag, 25. September, auch in einem Podium in der Paulus Akademie Zürich aufgenommen. Stefan Loppacher, Vreni Peterer, Bischof Bonnemain und viele weitere diskutieren über die Pilotstudie, ihre Ergebnisse und wie es nun für die Katholische Kirche weitergehen sollte und kann.
Es sind wir alle, die jetzt handeln müssen. Wir müssen dafür einstehen, dass es nicht beim Hinsehen und Hinhören bleibt, sondern die Kirche auch ins Handeln kommt. Wir dürfen nicht klein beigeben, wenn es heisst «Das ist nicht möglich.»
An der Basis hat der Wandel vielerorts schon begonnen. Es werden neue Konzepte ausprobiert und Offenheit gezeigt. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Klerikern, Theologen und Laien, die sich in der Kirche engagieren, trägt dazu bei, dass Kirche wieder lebendiger wird. Dieser Veränderung sollten wir nicht mit Angst entgegensehen, sondern mit Aufbruchstimmung.
Auch die Erde war eine Scheibe, bis wir festgestellt haben, dass sie rund ist. Vor Corona hätte sich niemand wirklich vorstellen können, welche Möglichkeiten die digitale Arbeitswelt bietet und wie schnell ein Kultur- bzw. Strukturwandel vollzogen werden kann, wenn er gezwungenermassen notwendig ist.
Die Kirche, das sind nicht nur die Kleriker da oben. Die Kirche sind wir alle, in der Jugendarbeit, in der Seelsorge für Kultur, Nachhaltigkeit und noch viel mehr.
Hat Ihnen das Thema Missbrauch in der Katholischen Kirche Schweiz noch nicht so stark auf den Magen geschlagen, dass Ihnen der Appetit für die nächste Zeit vergangen ist – dann empfehle ich Ihnen heute einen Besuch des Foodsave-Banketts. Noch bis heute Abend findet in der Europaallee, direkt hinter dem Zürcher Bahnhof, das urbane Erntedankfest statt, bei dem die Veranstalter mit leckeren Gerichten aus übrig gebliebenen Nahrungsmitteln ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung setzen.
Ihre
Saskia Richter
Der Inhalt dieses Newsletters gibt die persönliche Meinung des Autors oder der Autorin wieder. Diese muss nicht in jedem Fall der Meinung der Katholischen Kirche im Kanton Zürich entsprechen.
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Das ergibt bisher etwa 1000 Berichte, weltweit.
Jedes Mal ist die Antwort der kirchlichen Verantwortlichen:
'Wir sind erschüttert!!! Jetzt müssen wir intern abklären und genau hinschauen'.
Seit 20 Jahren geht das so! Und das Kirchenvolk lässt sich damit offensichtlich mehrheitlich besänftigen. Und macht sich damit zum Mit-Täter, zur Mit-Täterin.
Wann endlich kommt die Revolution von der Basis?
Muss es nochmals 20 Jahre so weitergehen?
'Siehe, ich mache alles neu!' Ein längst überfälliger Leitspruch aus der Bibel!
Einmal mehr zeigt sich, dass vor allem Papst Franziskus gefordert ist, seine Kirche grundlegend zu erneuern, nicht zuletzt durch die Aufhebung des Pflichtzölibats und die Zulassung von Frauen zum Priesteramt. Franziskus wird sich endlich gegen diejenigen erzkonservativen Kräfte der Kurie durchsetzen müssen, die sich jeglicher Reform der Kirche widersetzen, aus welchen Gründen auch immer. Andernfalls werden weiterhin viele Gläubige dieser Kirche den Rücken kehren und dadurch deren schleichenden Niedergang beschleunigen.
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