Davonlaufen? Richtung ändern!
Aber dieser Mönch, es ist Martin Werlen, ehemaliger Abt von Einsiedeln und heute Propst in St. Gerold, Vorarlberg, spricht mir damit aus der Seele. Heute Abend lädt Pater Martin in seine Propstei ein zur «Auskotzete» Als ich einmal im Newsletter schrieb, die Geschichte um die massenhafte Vergewaltigung von afrikanischen Nonnen durch Priester sei «zum kotzen», wurde ich für die Wortwahl gerügt. Aber den frommen Mönch, dem der Kragen geplatzt ist, darf ich sicher zitieren. Denn er trifft es auf den Punkt.
Was löst den Brechreiz aus? Werlen erklärt: «Ein ehemaliger Papst, der zum Schutz der Institution und seiner Person die ganze Welt anlügt, und mit der Wahrheit nur Stück um Stück herausrückt, lässt die Sprache verschlagen. Nur wenige Verantwortungsträger nehmen Stellung. Gutgläubige Menschen und ernsthaft Gottsuchende werden allein gelassen.» Auch ich zähle mich zu den Gutgläubigen, auch ich fühle mich von meinen «Hirten» im Stich gelassen.
Ja, jetzt reicht’s. Zwar glaube ich nicht, dass der «Papa emeritus» (so sein von ihm selbst erfundener Titel) auch nur eine einzige Zeile seiner langen Stellungnahme zum Münchner Missbrauchsgutachten selbst geschrieben hat. Auch nicht seine spätere Widerrufung der Lüge, er sei an der entscheidenden Sitzung bei der Übernahme eines bekannten Pädopriesters in den Seelsorgedienst seiner Diözese nicht dabei gewesen.
Jetzt reicht’s! Wer sehen will, wie es um diesen «Papa emeritus» wirklich bestellt ist, der schaue dieses Video eines Dokfilms zum 92. Geburtstags des Papstes aus Bayern an, genau bei Minute 14 (auf Youtube ist der Film noch zu finden mit spanischen Untertiteln, aus der offiziellen Mediathek des Bayrischen Rundfunks wurde es entfernt…) Dieses Propaganda-Video ist fast gänzlich mit Archivaufnahmen bestückt, als Papst Benedikt noch rüstig war. Bis auf diese kurze Szene und eine weitere beim Gebet in der Privatkapelle. Unterdessen ist Josef Ratzinger noch mal zwei Jahre gebrechlicher geworden.
Was soll also dieses «Kasperlitheater», wie es Mönch Martin nennt? Es ist alles andere als harmlos. Denn irgendwer im Umfeld hat die Verharmlosung und Lügengeschichte des «Papa emeritus» ja verfasst und veröffentlicht. Diese «irgendwer» haben konkrete Namen, sind bestens vernetzt in der Weltkirche, mit Kardinälen, Bischöfen und Domherren. Dieses klerikale Netzwerk wirkt direkt aus dem Garten von Papst Franziskus heraus. Und der schweigt dazu, seit Jahren. Auch die Kurie schweigt, das Kardinalskollegium, die Bischöfe. Soll mir bloss keiner sagen, sie wüssten nicht ganz genau, was da abläuft. Aber die «Hirten» schweigen. Denn das Papstamt darf nicht beschädigt werden, die Institution muss geschützt bleiben, der böse Schein gewahrt. Alle schweigen. Keiner wagt das befreiende: «Jetzt reichts!» Die Vertuschung geht weiter.
Stattdessen forciert die oberste Kirchenleitung die unselige Selbstsakralisierung des Papstamtes, Franziskus macht auch da fleissig mit. Dieses Jahr wird wieder einer der Vorgänger zur Ehre der Altäre erhoben (Johannes-Paul I.) Damit sind nun fast alle Päpste des 20. Jahrhunderts selig- oder heiliggesprochen. Es kommt mir vor wie im 19. Jahrhundert, als Papst Pius IX. 1870 den Verlust des Kirchenstaats und der weltlichen Macht mit dem Unfehlbarkeitsdogma kompensierte. Heute, wo auch die Glaubwürdigkeit der geistlichen Macht des Papst- und Bischofsamtes rasend schnell schwindet, sprechen sich die Oberhirten gegenseitig heilig. Wie erbärmlich, wie hilflos (wobei Albino Luciani wirklich ein toller Mensch war, das soll nicht verschwiegen werden).
Kardinal Marx fand gestern in seiner Stellungnahme zum Missbrauchsgutachten starke Worte: Er stand zu seinem persönlichen Versagen, seiner eigenen Schuld, forderte «grundlegende Reformschritte» angesichts der «systemischen Ursache» des «Desasters». Beatrix Ledergerber schreibt im Editorial der neuen forum-Ausgabe (nächsten Donnerstag in Ihrem Briefkasten), ein «Kulturwandel in der Kirche» reiche nicht. Bei einem Systemfehler brauche es einen «Systemwandel». Sind die Bischöfe dazu bereit? Wenn ich ihre Gruppenfotos betrachte, auf denen sie in langen Röcken mit breiten Schärpen und funkelnden Brustkreuzen in die Kameras lächeln, wage ich es zu bezweifeln. Haben sie wirklich erkannt, dass im Gebäude der klerikalen Männerkirche nicht nur das Gebälk kracht, sondern dass dieses Gebäude längst zu Schutt und Asche verfallen ist? Immerhin: Kardinal Marx trat gestern ohne sein Bischofskreuz vor die Kameras. Ein Zeichen?
Jetzt reicht’s! Warum bleibe ich denn in der Kirche? Warum versuchen wir in der Kommunikationsstelle, Good-News aus dieser Kirche zu verbreiten? Diese Frage haben wir uns im Team diese Woche ernsthaft gestellt. Und mir ist jeder Kirchenmensch unheimlich, der sich in dieser Situation nicht diese Frage stellt. Meine persönliche Antwort lautet: So lange in dieser Kirche Menschen vor dem Allerheiligsten knien und beten, so lange will ich Teil dieser Kirche sein. Wobei ich mit dem Allerheiligsten weniger den goldenen Tabernakel meine, sondern die Orte, wo uns Gott leibhaftig begegnet: wo Menschen leiden, sterben, suchen, für das Gute kämpfen, wo Menschen einander beistehen, sich gegenseitig stärken, für eine andere Kirche einstehen, für eine andere Welt. Leicht gesagt, schwer getan.
Gar nicht schwer ist es, sich mit den queeren Menschen zu solidarisieren, die sich in unserer Kirche bisher immer verstecken mussten, wollten sie nicht die Stelle verlieren. 125 von ihnen haben in Deutschland den Schritt an die Öffentlichkeit gewagt, in der Schweiz trauen sich das noch immer nur wenige. Aber sie sind zahlreich. Hier können Sie die europaweite Petition unterzeichnen.
Gestern begingen wir den Holocaust-Gedenktag. Die Regisseurin des Films Brunngasse 8, der die Geschichte der Bewohnerinnen und Bewohner des Zürcher Altstadthauses nachzeichnet und somit ans Pogrom vor siebenhundert Jahren erinnert, schreibt in ihrem Beitrag zum Film dies: «Wir leben mit Geschichten und Geschichte. Es ist schwierig, sich in Menschen früherer Zeiten einzufühlen. Solange wir uns aber darum bemühen und sie in Erinnerung rufen, bleibt ihre Geschichte unter uns lebendig.» Memoria passionis nennen das die Theologen, Gedächtnis des Leidens. Um daraus Kraft und Hoffnung für den Aufstand, die Auferstehung zu schöpfen. Der Film läuft im Kino Houdini.
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende und einen gesegneten Sonntag.
Simon Spengler
Der Inhalt dieses Newsletters gibt die persönliche Meinung des Autors oder der Autorin wieder. Diese muss nicht in jedem Fall der Meinung der Katholischen Kirche im Kanton Zürich entsprechen.
Sie können den Newsletter hier abonnieren
Seien Sie doch einwenig respektvoll und demütig in Ihrem persönlichen verurteilenden Bericht. Plappern Sie nicht einfach Abt Werlen etwas nach. Seien Sie doch bemüht alle Umstände miteinzubeziehen und kohärent zu sein.
Als in der katholischen Kirche tätige Person erwarte ich dies alles.
Benedikt wird gewiss genau und ehrlich auf das Gutachten antworten. Erst dann können Sie analysieren und so gekotzt antworten, aber gewiss nicht jetzt. So bleiben Sie jetzt lediglich ein Ketzer.
Es täte Ihnen gut folgenden Artikel zu lesen, der sinnbildlich für tausend andere ist:
https://www.die-tagespost.d[…]r-feindseligkeit-art-225135
Auch täte es Ihnen gut, den journalistischen Stil der reformierten Kirche in ihrer Zeitschrift ‚Reformiert‘ vom 3.2.2022 an die Gläubiger als Beispiel für einen christlichen Auftrag zur Kenntnis zu nehmen. Aufbauend und nicht niederreissend zum Kotzen (ihr Sprachgebrauch).
Es grüßt Sie
Styger Emil
Danke für Ihre klare Meinung! Zum davonlaufen? Ja, das kann ich verstehen. Doch das sollten wir nicht tun. Wir haben es mit dem "kleinen Bodenpersonal" der Kirche zu tun, der leider zum Teil ganz oben angesiedelt ist.
Umso mehr sollten wir uns weiter engagieren und mit Gottvertrauen weiter unseren Weg gehen. Diese "armen Priester" haben doch ein riesiges Problem, das sie nicht lösen können/wollen. Nur verzeihen reicht nicht, da bin ich mit Ihnen einig. Doch in wiefern sollen wir solche Menschen verurteilen? Wir war das mit dem "ersten Stein"?
Auch ich bin verärgert und schockiert ab solchen Meldungen. Die Devise sollte lauten; christlich und zwar auch energisch dagegen angehen und vorbildlich den Weg Gottes weitergehen.
Leider fällt mir nicht mehr dazu ein. Die Petition habe ich jedenfalls unterschrieben.
Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Kraft und Zuversicht. Nochmals Danke für Ihre Zeilen.
Freundliche Grüsse, Louis Grosjean
P.S.: Nach St. Gerold reisen wollte ich eigentlich, aber da meine Putzfrau (aka ich :-)) aber heute nicht frei nehmen kann, musste ich doch darauf verzichten, mit auszukotzen...
Auch ich ertrage es kaum. Aber um so mehr braucht es Menschen wie dich, die den Schmerz spüren, erdulden und ausdrücken können. Wenn diese Kirche noch etwas Hoffnung ausstrahlen soll
, dann müssen wir die Herzen der Menschen berühren, ihre Sorgen nicht nur wahrnehmen, sondern mit ihnen leiden. Das tun wir. Unter dem Kreuz der Unschuldigen zu stehen und zusehen zu müssen, das tut weh. Es tut weh, wenn Opfer diffamiert und die Täter verteidigt werden. Unser System hat versagt und ist mit Blut getränkt. Lasst es uns verändern. Es ist an der Zeit.
Herzlichen Dank für diese klaren Worte. Ich bin überzeugt, dass Sie sich mit diesem Grüss Gott Zürich nicht nur Freunde schaffen. Doch damit müssen Sie leben. Ich habe mir die Frage nach dem Austritt aus der Kirche gerade in letzter zeit auch schon gestellt. Und das nach 40 Jahren im kirchlichen Dienst in verschiedenen Aufgaben. Doch seit meinem Theologiestudium beschäftige ich mich mit der Frage nach Jesus Christus und seinem Gott. Und im Rückbezug auf dieses grosse Geheimnis schaffe ich es, zu bleiben. Kürzlich las ich das Buch von Johannes Röser Auf der Spur des unbekannten Gottes. Dieses Buch macht Hoffnung und öffnet den Blick über die kirchliche Leitung hinaus. Er zitiert Teilhard de Jardin Auf S 172: "Die Welt wird wird in Zukunft die Knie nur mehr vor dem organischen Zentrum ihrer Evolution beugen. Uns allen fehlt mehr oder weniger derzeit eine neue Fromulierung der Heiligkeit." Und weiter: "Warum nur haben die Glaubensautoritäten mitsamt ihrer Glaubenslehre solche Angst vor dem Evolutiven, vor Gott und einem Christus in einer wahren kosmischen Entwicklung?" Ich gaube, dass hier schon vor langer Zeit die Richtung aufgezeigt wurde, in der wir heute zu gehen haben.
Ich wünsche Ihnen viel Kraft bei den verschiedensten Reaktionen, die Sie auf Ihr Schreiben erhalten werden und bitte einfach: Bleiben Sie dabei!
Deine Worte und auch der neue Newsletter von Herrn Spengler sprechen mir aus dem Herzen. Auch das Statement von Kardinal Marx finde ich gut. Nur mir ist der Glaube abhanden gekommen, dass sich echte Veränderungen in der Kirche in absehbarer Zeit durchsetzen. Auf die vielen Worte folgen nie Taten. Die Glaubwürdigkeit der Kirche ist nicht mehr gegeben. Was gibt es eigentlich noch für Gründe, warum man/frau in dieser Kirche bleiben soll???
Kommentare anzeigen