Fastenzeit – Besinnungszeit
Was letztlich niemand für möglich gehalten hat, ist seit dem 24. Februar brutale Realität: Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat in Europa ein Land ein anderes trotz Völkerrecht und Verträgen überfallen und will es militärisch in die Knie zwingen. Russland führt als grösste Atommacht Europas Krieg gegen die Ukraine, die ihr Territorium alleine verteidigen muss. Einerseits ist die Ukraine alleine auf sich selbst gestellt, andererseits erlebt das Land eine Solidarität, wie es sie in dieser Breite wohl noch nie gegeben hat.
Ich denke auch an die Menschen in Russland. Während wir aktuell zu Tausenden ohne Angst auf der Strasse demonstrieren können, leben die Russinnen und Russen in einem System, das es ihnen nicht erlaubt, ihre freie Meinung ohne einschneidende Konsequenzen zu äussern. Sie müssen aushalten, dass auch ihnen völliges Unverständnis und blanker Hass entgegenschlägt. Trotzdem tragen auch sie eine Verantwortung, wen sie als Regierung wählen oder dulden.
Der Frieden in Europa hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Und das Zitat aus der Bibel «Schwerter zu Pflugscharen» hatte schon mehr und überzeugendere Anhängerinnen und Anhänger. Das geflügelte Wort stand ab den 1980er Jahren für das Ziel eines Weltfriedens durch weltweite Abrüstung und Rüstungskonversion, das heisst die Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produkte. Denn Waffen wollen auch eingesetzt werden.
Die bekannte Zürcher Theologin und Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle kommt in ihrem aktuellen Kommentar «Rationalität des Bösen» zum Schluss, dass grundsätzlich zwar alle niederschwelligen Handlungsmöglichkeiten zwingend ausgeschöpft werden müssten, bevor militärische Mittel zum Einsatz kommen würden. Die Aggression Russlands zeige aber: «Dieser derzeitigen Macht des Bösen können nur Wehrbereitschaft und Machtmittel entgegengesetzt werden.» Es sei eine Illusion zu glauben, dass autokratische Machthaber wie Putin von selbst und mit Worten alleine zur Vernunft kommen würden. Die Institutsleiterin der Stiftung Dialog Ethik ist überzeugt, dass der gewaltfreie Widerstand eine Begegnung von Mensch zu Mensch voraussetze, was im modernen Krieg mit Luftangriffen (Flugzeugen und Marschflugkörpern) ausgeschaltet sei.
Begegnung zwischen Menschen geschieht auch im Handel. Baumann-Hölzle ist überzeugt, dass Handelspartnerschaften und militärische Wehrhaftigkeit zwingend an humane Voraussetzungen gebunden werden müssen: Es ist der Anspruch des Menschen auf Menschenwürde und Menschenrechte als unabdingbare Voraussetzung für den Weltfrieden. Damit verknüpft ist zwingend auch die gerechte Verteilung natürlicher Ressourcen. Ich komme darauf zurück.
Der grausame Krieg in der Ukraine bewegt auch die Schweiz. Tausende gehen auf die Strasse, protestieren und solidarisieren sich mit den betroffenen Menschen in der Ukraine. Politiker beschliessen Sanktionen, kantonale Anlaufstellen suchen nach Unterkünften für geflüchtete Menschen. In den Medien hat der Ukrainekrieg als Dauerthema die Coronakrise abgelöst.
Und was machen wir Kirchen? Das, worin wir schon immer gut waren: Wir rufen zum Friedensgebet und tausende Menschen kommen, wie srf in einem Radiobeitrag berichtet. Wir Menschen brauchen das, wollen solidarisch Zusammenstehen und ein ermutigendes Zeichen für die Betroffenen setzen, mit anderen für den Frieden, das Gute einstehen, gemeinsam beten und singen, uns mit tausendfachem Glockengeläut vernetzen. So am Montag im Grossmünster, wo sich sich Christinnen und Christen aus Ost und West, jüdische und muslimische Gläubige sowie Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen zum Friedensgebet getroffen haben. Heute Freitag wartet der Weltgebetstag mit einem speziellen Fürbittgebet für die Ukraine auf. Und stellvertretend für viele Anlässe in den kommenden Tagen und Wochen laden am Sonntag die katholische und reformierte Kirchgemeinde Richterswil zu einem musikalischen Friedensgebet ein. Synodalrat und Generalvikar bitten in einem Solidaritätsaufruf alle Zürcherinnen und Zürcher, sich zu engagieren.
All dies sind starke solidarische Zeichen: nach aussen für all die leidenden Menschen in der Ukraine und nach innen als Gemeinschaft und Gesellschaft. Wichtig wird sein, was wir mit Blick in die Zukunft für den Frieden zu tun bereit sind. Die einen wollen sich mit zusätzlichen militärischen Mitteln vor Aggression und Krieg schützen. Andere wollen konsequent auf den gewaltfreien Widerstand setzen. Für die Kirchen heisst dies in Anlehnung an die Friedensstrategie der Ethikerin Baumann-Hölzle: Die Kirchen mit ihrem Anspruch, der Welt den Frieden zu bringen, müssen ihre ganze Kraft auf die unabdingbaren Voraussetzungen dafür konzentrieren: Jeder Mensch hat Anspruch auf Menschenwürde und damit auf Rechte und gerecht verteilte Ressourcen.
Anspruch auf Rechte und gerecht verteilte Ressourcen passen sehr gut zur angelaufenen Fastenzeit. Die aktuelle ökumenische Kampagne von Fastenaktion und HEKS stellt auch dieses Jahr die Klimagerechtigkeit ins Zentrum. Unter dem Titel «40tage» lädt Kirche urban von Katholisch Stadt Zürich zum Fasten ein. Begleitet wird das Projekt vom erfahrenen Fastencoach Meinrad Furrer, der dezidiert sagt: «Wir haben von Vielem zu viel. Ein Leben in ständiger Sättigung entspricht nicht unserer menschlichen Natur und macht uns weniger lebendig. Alle sind eingeladen, auf ihre Art über das Potential von Genügsamkeit als Gegenmittel zur Übersättigung nachzudenken.»
Achtsamer im Leben stehen. Das bieten auch die «Exerzitien im Alltag», die in Winterthur regelmässig von ökumenischen Teams angeboten werden.
Die diesjährige Fastenzeit kommt nach der Pandemiekrise und mit dem Ukrainekrieg gerade richtig. Wir brauchen Zeit, uns zu besinnen. Unser Handeln heute hat mit der Welt von morgen zu tun. So könnte eine neue «Friedensordnung» in mir drin und damit auf der Welt gelingen.
Ich wünsche Ihnen ein sonniges, gesegnetes Wochenende.
Herzlich
Aschi Rutz
PS: Frieden beginnt jederzeit. Vielleicht auch übermorgen Sonntag, wenn ich zum Wurstessen pilgere. 500 Jahre nach dem reformatorischen Fastenbruch mit einem Wurstessen kommen Christinnen und Christen im Grossmünster wieder zusammen, die damals am gleichen Tisch sassen, sich kurz danach entzweiten und verschiedene Wege einschlugen.
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