Internationaler Tag der leichten Sprache «Wir sind quasi unsichtbar»
In diesem Jahr feiert der Verein, der sich für die Belange von Menschen mit Lern-Schwierigkeiten einsetzt, bereits sein zehnjähriges Jubiläum. Gegründet in 2014 möchte der unabhängige, gemeinnützige Verein Betroffene, Angehörige und Gesellschaft über das Thema Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und Lern-Schwierigkeiten sowie Inklusion und Teilhabe bilden und mithilfe von Peerberatung, das heisst Beratung von Betroffenen für Betroffene, den Austausch auf Augenhöre ermöglichen.
Für den 8. Juni war eine gemeinsame Tagung des Vereins in Zusammenarbeit mit der Katholischen Behindertenseelsorge in der Paulusakademie geplant. Diese sollte – im Rahmen der Aktionstage Behindertenrechte, die noch bis zum 15. Juni schweizweit stattfinden – über das wichtige Thema Selbstbestimmt leben aufklären. Leider wurde die Tagung aufgrund zu weniger Anmeldungen abgesagt. Wir haben noch vor dem Bekanntwerden der Absage mit Christoph Linggi*, Vorstand des Vereins «Mensch zuerst», über den Zweck der Tagung, seine Erfahrungen als Peerberater, sein Engagement für den Verein und Herausforderungen für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung im Alltag gesprochen. Weil das Thema trotz abgesagter Tagung aktuell ist und Bildung bedarf, möchten wir das Interview am «Internationalen Tag der leichten Sprache» hier dennoch veröffentlichen.
Herr Linggi, warum braucht es Angebote zum Thema «Selbstbestimmt leben»?
Im Januar ist das Selbstbestimmungsgesetzt im Kanton Zürich in Kraft getreten. Menschen mit Behinderung erhalten dadurch grössere Freiheiten bei der Wahl der Wohn- und Betreuungsform. Bisher waren diese Faktoren sehr fremdbestimmt, Betroffene hatten kein Mitspracherecht.
Viele von Ihnen wissen jedoch über diese neuen Möglichkeiten noch gar nicht Bescheid. Mit der Tagung wollten wir sie über das Gesetz und ihre neuen Rechte informieren.
Was sind generell Schwierigkeiten von Menschen mit Behinderung, wenn es um ein selbstbestimmtes Leben geht?
Nicht allen Menschen mit psychischer Behinderung sieht man diese auf den ersten Blick an.
«Wir sind sozusagen unsichtbar.»
Dadurch werden wir sehr oft ausgeschlossen, da zum Beispiel Referat nur in «Schwersprache» stattfinden, der Raum für den uns wichtigen Rückzug fehlt und vieles mehr. Die Aufklärung der Gesellschaft bezüglich unserer Bedürfnisse und Herausforderungen ist deshalb ein wichtiges Anliegen.
Was wurde in den letzten Jahren mit Blick auf Inklusion und Selbstbestimmung bereits erreicht und wo besteht noch Handlungsbedarf?
Im Kanton und den einzelnen Gemeinden gibt es bereits zahlreiche Arbeitsgruppen, die informieren, aufklären und beraten. Mit dem Verein halten wir Vorträge an Hoch- und Berufsschulen zum Thema Inklusion und Empowerment.
«Dabeisein wird grossgeschrieben, aber vom Mitreden und Mitentscheiden sind wir noch weit entfernt.»
Menschen mit Behinderung oder Lern-Schwierigkeiten müssen in allen Bereichen mehr einbezogen werden. Wir würden uns wünschen, dass man uns direkt fragt, was wir brauchen oder ob Dinge für uns verständlich sind. Eine wirkliche Veränderung kann nur mit uns gemeinsam erfolgen, indem wir in Prozesse einbezogen werden und nicht über uns hinweg einfach für uns entschieden wird.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft für Menschen mit Lern-Schwierigkeiten oder Behinderung?
Zum einen wäre es gut, wenn wir genauer zwischen körperlicher und geistiger Behinderung unterscheiden würden. Denn Menschen mit Lern-Schwierigkeiten oder Lern-Behinderung haben nochmal andere Anforderungen und Bedürfnisse als Menschen mit physischer Beeinträchtigung.
Dabei ist zu beachten, dass die einfache Sprache, die Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen hilft, keine Kindersprache ist. Auch hilft es nicht, wenn die einfache Sprache nur digital, an nicht immer einfach aufzufindenden Orten zum Einsatz kommt. Es ist ebenfalls notwendig, dass die für uns verständliche, einfache Sprache analog, das heisst auf Flyern und anderen Druckprodukten eingesetzt wird.
Zum anderen ist es wichtig, dass Menschen mit Behinderung immer am gesellschaftlichen Leben beteiligt sind und nicht nur während der Aktionswochen besondere Aufmerksamkeit erfahren.
«Die Aktionstage sind ein wertvolles Zeichen, dass Inklusion und Teilhabe stattfinden. Wichtig ist es jedoch, dass es zu einem langfristigen und dauerhaften Umdenken kommt.»
Der Verein «Mensch zuerst» bietet allen Interessierten Beratungen rund um das Thema Lern-Schwierigkeiten, Teilhabe und Inklusion. Bei Bedarf melden Sie sich bitte bei Christoph Linggi: linggi@mensch-zuerst.ch oder besuchen Sie die Homepage des Vereins.
*Christoph Linggi, der selbst eine Lern-Schwierigkeit hat, ist Gründungsmitglied des Vereins «Mensch zuerst». Nach einer Ausbildung zum Peerberater bietet er seit 2017 Beratungen für Betroffene an. Er war früher im institutionellen Rahmen einer Arbeitsgruppe tätig, lebt mittlerweile aber selbstständig mit seiner Lebenspartnerin in einer eigenen Wohnung.
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