Neues Buch von Daniel Kosch veröffentlicht «Synodal und demokratisch»
Vor gut 500 Jahren, am 31. Oktober 1517, hat Martin Luther seine berühmten 95 Thesen an die Tore der Schlosskirche von Wittenberg angeschlagen und so am Tag vor Allerheiligen zu einem Disput über den Ablass eingeladen. Das Bild macht den Hammerschlag, der die Kirche im Innersten traf und zur Reformation führte, handfest sichtbar.
Am 12. September 2023 veröffentlichte die Universität Zürich einen Zwischenbericht über den sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz. Damit sauste – wie zuvor schon in anderen Ländern – ein weiterer Hammer über die katholische Kirche und erschüttert sie in ihren Grundfesten. Gemäss Kardinal Walter Kasper, dem früheren Ökumene-Minister des Vatikans, führte der klerikale Missbrauch zur «tiefsten Krise der Kirche seit der Reformation».
Kritik von Macht im Namen Gottes
In beiden Fällen kam der Hammerschlag nicht von der «bösen Welt», sondern aus dem Innern der Kirche, war selbstverschuldet. Beide Male ging es um den Missbrauch geistlicher Macht. Die Reformatoren fanden eine geistliche Antwort und entzauberten die Machthaber der kirchlichen Gnadenanstalt mit Verweis auf den allein barmherzigen Gott. In der heutigen Krise sucht man eine säkulare Antwort auf die missbrauchsgefährdete Machtkumulation in der Hand des Klerus und sucht das Heil für die Kirche in der Teilung der Gewalten und der Machtkontrolle. Schon Zwingli und Calvin setzten in Zürich und Genf auf demokratisch-synodale Prinzipien der Kirchenführung. (…)
Etwas von diesem Geist herrscht noch immer in der Kirchenstruktur der katholischen Schweiz. Durch die Missbrauchskrise gelangt dieses Modell der Machtteilung zu neuer Aktualität. So kommt eine neue Publikation, die sich im Detail mit der dualen Kirchenstruktur der katholischen Kirche der Schweiz befasst, höchst gelegen. Verfasst hat «Synodal und demokratisch» einer, der damit im Innersten vertraut ist: Daniel Kosch, der langjährige Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz.
Erbstück einer voraufgeklärten Welt
Man mag es als eine Laune der Geschichte betrachten, dass die Helvetische Republik nach der Französischen Revolution keine so radikale Säkularisation durchmachen musste wie die umliegenden Länder. Die Säkularisation der Güter von Fürstbistümern und Klöstern war die grösste Enteignung der Geschichte. Demgegenüber konnten die Schweizer Kirchen trotz der Entflechtung der Aufgaben von Staat und Kirche einige demokratische Traditionen der alten Eidgenossenschaft in die moderne Schweiz retten.
Ähnlich wie Fürsten und Könige durch die Stiftung von Kirchen und Klöstern das Recht erhielten, bei wichtigen Beschlüssen der Kirche mitzuwirken, besassen analog Korporationen und Städte der alten Orte Patronatsrechte, also Mitwirkungsrechte bei der Verwaltung der Kirche und bei der Bestellung ihrer Pfarrer und Bischöfe. Heute sind diese Rechte kostbare Erbstücke einer voraufgeklärten Welt, um welche katholische Kirchen anderer Länder die Schweizer Kirche beneiden. Die monarchistische Kirchenstruktur des 19. Jahrhunderts mit ihren absolutistischen Dogmatisierungen auf dem Ersten Vatikanischen Konzil – das, was konservative Katholiken als immerwährende Tradition der Kirche ausgeben – sind bei uns ein Stück weit gebrochen. Mit ein Grund war die chaotische Aufhebung des Bistums Konstanz, zu dem grosse Teile der Schweiz östlich der Aare und nördlich des Gotthard gehörten: Sie drängte den Vatikan hierzulande gehörig in die Defensive.
Fast wie Don Camillo und Peppone
Konkret beinhaltet das Schweizer Modell etwas Doppeltes: Es gibt wie überall hierarchisch verfasste Diözesen mit Bischöfen und Priestern, die dem Papst gegenüber zu Gehorsam verpflichtet sind und in allen geistlichen Fragen das letzte Wort haben. Weil nach schweizerischem Verständnis Steuergelder jedoch demokratisch verwaltet werden müssen, gibt es in den meisten Kantonen nach staatlichem Religionsrecht verfasste kantonalkirchliche Körperschaften (auch «Landeskirchen» genannt). Sie verwalten die Steuergelder und sind dafür zur Rechenschaft verpflichtet. Folglich stellen sie auch das kirchliche Personal an, sorgen für die pastorale Infrastruktur und verwalten die Kirchengüter – soweit sie nicht Stiftungen zugewiesen sind. (…)
Ein föderalistisches Milliardenunternehmen
Die erhebliche finanzielle Macht, die anderswo Bischöfe und Kardinäle wahrnehmen, liegt in der Schweiz somit in der Hand der Landeskirchen. Aus Steuern und öffentlichen Mitteln steht ihnen derzeit jährlich rund eine Milliarde Franken zur Verfügung, die von vielen autonomen Körperschaften wie etwa Kirchenpflegen verwaltet werden. Mit 850 Millionen Franken wird der Grossteil auf Gemeinde-Ebene ausgegeben, nur 130 Millionen Franken auf kantonaler Ebene und je 10 Millionen Franken auf diözesaner und schweizerischer Ebene. Der Vatikan ist als Empfänger nicht vorgesehen. (…)
Wes Brot ich ess …
Das duale System hat zur Folge, dass der Bischof seinen Leitungsanspruch nicht mit finanziellem Druck durchsetzen kann und auch in seinen personellen Entscheidungen nicht völlig frei ist. Wer etwa entgegen obrigkeitlichen Weisungen Segensfeiern für homosexuelle Paare durchführt, gemeinsam mit einer evangelischen Pfarrperson Eucharistie und Abendmahl feiert oder sich in der Predigt für die Priesterweihe von Frauen ausspricht, kann nicht ohne weiteres aus seinem Amt entfernt werden.
Daraus wird klar, dass es zu simpel wäre, den Bischof für den Geist und die Landeskirchen für das Geld als zuständig zu erklären – vereinfacht ausgedrückt: Der Bischof befiehlt, die Landeskirchen bezahlen. Es braucht theologischen und praktischen Sachverstand, um zu entscheiden, ob ein pastorales Konzept mit Steuergeldern unterstützt werden soll. Umgekehrt weiss der Bischof, dass Seelsorge Geld kostet, er kann darum nicht am Gottesvolk vorbei Geld der Kirchbürger ausgeben, wenn er deren Zustimmung behalten will.
Dual, komplex und konfliktträchtig
Der Autor sieht aber auch die Schwächen des Systems. Die Aufteilung finanzieller und pastoraler Zuständigkeiten ist praktisch kaum durchzuhalten, denn sie reisst auseinander, was zusammengehört, und erweckt den Eindruck, die Laien seien in der Kirche nur für die Finanzen, die Amtsträger hingegen allein für die Pastoral verantwortlich. Wer die pastorale Mitverantwortung aller Getauften ausblendet, leistet dem Klerikalismus Vorschub. Andererseits eröffnet das duale System grosse Potentiale für die Mitverantwortung des Volkes Gottes, wie sie vom Konzil postuliert wird. Immerhin sind fünf- bis zehntausend Gläubige in die Tätigkeiten der Landeskirchen eingebunden.
Es ist das Verdienst von Daniel Kosch, dass er in seinem Buch die hohe Komplexität des dualen Systems sorgfältig analysiert, aus theologischer Sicht kritisch begutachtet und aus religionspolitischer Perspektive Ansätze zu dessen Weiterentwicklung darlegt. Denn in einem Gemeinwesen, dessen religiöse Landschaft immer vielfältiger wird und gleichzeitig die Zahl der religiös Abstinenten bald die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, muss das Religionsrecht dafür sorgen, dass alle religiösen Gemeinschaften gleiche Rechte besitzen, sowohl in Bezug auf öffentliche Anerkennung wie auch in Hinsicht auf die Möglichkeit, für ihren Unterhalt bei Mitgliedern Steuern einzuziehen.
Dass das duale System zu Spannungen führt, versteht sich von selbst. Die Landeskirchen sind von unten her konstruiert, die hierarchische Kirche von oben. Die Landeskirchen verstehen ihre Macht demokratisch-subsidiär-laikal, die Kirchenleitung monarchistisch-autoritär-klerikal. (…)
Demokratie hat Heimatrecht in der Kirche
Allerdings fürchtet der Klerus einschliesslich Papst Franziskus alles, was nach Demokratie riecht, wie der Teufel das Weihwasser. Als ob die Kardinäle im Konklave vom März 2013 Jorge Mario Bergoglio nicht in einem demokratischen Verfahren auf den Papstthron gehoben hätten. (…) Und als ob die Konzile und Synoden im Lauf der Geschichte ihre Lehrentscheidungen nicht demokratisch ausgemarcht hätten (wenn auch nicht immer lupenrein). Auch wenn die Lüfte der paulinischen Freiheit in der Kirche nur mehr ein sanftes Säuseln sind und selten in ihrer Verfassung verankert wurden, kann man nicht sagen, dass die Demokratie in der Kirche kein Heimatrecht hat. Und wenn die vielbeschworene Synodalität mehr sein soll als ein Zauberwort, muss sie die Macht des Klerus begrenzen. (…)
Eine Frage bleibt
Eine Frage freilich bleibt: Warum gelang es der demokratisch konstituierten Kirche Schweiz nicht, aufgrund der dualen Machtteilung Machtmissbrauch entschiedener zu verhindern? Auch wenn das Buch vor der Missbrauchsstudie geschrieben wurde, bleibt dieser Stachel im dualen System der Schweizer Kirche. Funktioniert die Teilung der Macht nur bei gutem Wetter? Sind die entsprechenden Gremien konfliktscheu und behandeln die Bischöfe noch immer wie Gnädige Herren? Oder ducken sie sich allzu bereitwillig vor den Kläffern in bischöfliche Kurien, die das duale System als «babylonische Gefangenschaft» in Grund und Boden verdammen? Spätestens der aufgedeckte Missbrauch fordert die staatskirchenrechtlichen Strukturen in ihrer personalrechtlichen Verantwortung heraus zu einer konsequenteren Wahrnehmung ihrer Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz, Machtteilung und Solidarität.(…)
In seiner 11. These meinte Luther, die Bischöfe hätten wohl geschlafen, als der Papst das Unkraut des Ablasses gesät habe, um mit dessen Einkünften den Petersdom in neuer Pracht erbauen zu lassen. Wenn religiöse Macht geistlich und sexuell so ruinös missbraucht werden konnte, kann man sich fragen, ob die Bischöfe je aufgewacht sind.
Dieser Text erschien zuerst auf journal21.ch. Wir veröffentlichen mit Erlaubnis der Redaktion und des Autors eine gekürzte Fassung.
Daniel Kosch, Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen, Edition Exodus 2023, 520 S., 42 Franken.
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