Ausstellung «Alltagsheilige» Wer in diesem Land die Arbeit macht
Wann ist ihnen der Satz «Das ist mir heilig» zum letzten Mal über die Lippen gekommen? Und was haben sie damit verbunden? Eine Person? Etwas, das ihnen in ihrem Leben wichtig geworden ist? Ein Wert wie Frieden oder Freiheit?
Alltagsheilige
Im letzten Jahr haben wir viel von systemrelevanten Berufen gehört oder gelesen. Während der Pandemie standen plötzlich Menschen im Mittelpunkt, die wir sonst kaum wahrnehmen oder deren Arbeit wir als selbstverständlich erachten.
Als mir dann Kathrin Rehmat, meine reformierte Kollegin an der Predigerkirche, von der Arbeit des Illustrators und Fotomonteurs Daniel Lienhard erzählte, war ich sofort dafür, dass wir diese Ausstellung in die Predigerkirche holen sollten. Ich habe mich dann nicht mehr weiter darum gekümmert, weil meine Kollegin diese Ausstellung betreute. Am 3. März war es dann soweit - und die Vernissage hat mich umgehauen. Die Worte des Künstlers waren eindrücklich und haben mich tief beeindruckt.
Hinsehen
Darüber, wie Daniel Lienhard auf die Idee der Ausstellung kam, sagt er: «Ich bin als Illustrator und Fotomonteur ja dauernd auf Bildersuche. Dabei stiess ich zufällig auf die Statue von Benedetto il Moro. Benedetto lebte – aufgrund unfreiwilliger Migration – im 16. Jahrhundert mit seinen Eltern als Sklave auf dem Gut eines sizilianischen Orangen-Bauern. Wegen der grossen Loyalität seiner Eltern schenkte der Gutsherr Benedetto, als er 18 war, die Freiheit. Der fand im Minoritenkloster Santa Maria di Gesù in Palermo Arbeit in der Küche. Und obwohl Benedetto Analphabet war, wurde er schon bald und gegen seinen ausdrücklichen Willen zum Abt gewählt. Er reformierte das Kloster sehr intelligent, behielt aber sein ganzes Leben lang seinen Dienst in der Küche bei. Benedetto ist heute Schutzpatron von Palermo.
Ich wusste sofort: Mit dem wollte ich etwas machen. Etwas über moderne Sklaverei. Benedettos Legende zeigt ja ganz deutlich, dass sich seit dem 16. Jahrhundert diesbezüglich nicht sehr viel verändert hat.»
«Ein dunkelhäutiger Migrant als Ernte-Sklave in Süditalien. Dafür müssten wir eigentlich nicht fünf Jahrhunderte zurück, das haben wir heute vor der globalen Haustür.»
Die Dramen der Ungerechtigkeit, die wir in den Heiligenlegenden sehen, sind keine Sache der Vergangenheit. Sie finden heute genauso statt, vor unseren Augen.
Die zweifache Bewegung
In den Bildern von Daniel Lienhard findet eine zweifache Bewegung statt. Einerseits holt er die Heiligen von ihrem Sockel und stellt sie in unseren Alltag. Also eine Bewegung von oben nach unten. Und andererseits gibt es die gegenteilige Bewegung von unten nach oben, in dem er die Verpackerin, den Expresspostboten, die 24-Stunden-Pflegerin erhöht.
Damit stellt er unsere Sichtweise auf den Kopf. Oder mit seinen Worten:
«Du bist ein Kind Gottes», sagt die Religion. «Es muss sich rechnen», sagt die Oekonomie. «Es wird Euch an nichts mangeln», sagt die Bibel. «Wer soll das bezahlen?», fragt die Wirtschaft.
Da tut sich eine Kluft auf, die unüberwindbar scheint. Da trennen uns Welten, wie man sagt.
Die Herausforderung
Solche Gedankengänge fordern mich heraus. Die Bilder und die Gedanken dazu lassen wir fragen, was ich, was wir tun könnten. Daniel Lienhard hat darauf geantwortet:
«Auf der individuellen Ebene vielleicht das, was meine paar Bilder auf ihre Art versuchen. Zuerst überhaupt einmal die Leute zu sehen, die den Dreck für uns machen. Sie nicht nur zu sehen, sondern sie anzusehen. Man muss sie ja nicht gleich zu Heiligen machen, aber man kann sie ansehen und das würdigen, was sie für uns tun. Soziologie-Studenten hat man in einem Experiment einmal ein paar Tage lang zum Betteln in die Fussgängerzone geschickt. Als sie nachher gefragt wurden, welches dabei ihre härteste Erfahrung gewesen sei, antwortete eine Mehrzahl von ihnen, am schwersten sei zu ertragen, von den Passanten gar nicht wahrgenommen und wie Luft behandelt zu werden.»
«Jemandem, den ich ansehe, verleihe ich Ansehen.»
«Und auch die Kirche müsste sich fragen, ob es denn reicht, vom Himmelreich auf Erden nur zu reden. Oder ob man nicht etwas mehr dafür tun könnte. Ich sage nicht, die Kirche tue nichts. Aber sie ist schon besser darin, zu predigen als sich mutig einzumischen. Was hat die Kirche – bei Lichte besehen – doch nicht schon alles aus der Hand gegeben: Fürs Klima kämpft heute die Klima-Jugend, für die Umwelt Greenpeace, für die Gefangenen Amnesty, für die Geflüchteten Ärzte ohne Grenzen, für die Transzendenz die Esoterik und für die Erklärung der Welt Google. Dabei gehörte doch all das auch zum Kerngeschäft der Kirche. Aber dazu müsste sie politischer werden. Und kompromissloser. Wären wir – sagen wir – nur einen Zehntel so unbequem, wie man es uns von Jesus erzählt, die Welt sähe anders aus».
Damit fordert Daniel Lienhard mich nicht nur heraus, er spornt mich an: Ich will hinschauen!
Die Ausstellung «Alltagsheilige» ist noch bis am 21. April in der Zürcher Predigerkirche zu sehen. An der Finissage am Donnerstag, 21. April um 17 Uhr führen der katholische Seelsorger Thomas Münch und seine reformierte Kollegin Kathrin Rehmat ein ökumenisches Gespräch zur Ausstellung. Jasmin Vollmer umrahmt den Anlass mit Harfenmusik.
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