Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt Was ein Segen bewirken kann
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Unlängst war ich auf einer Wanderung mit meinem Patenkind, seiner Schwester und deren Mutter, einer guten Freundin von mir. Wir kamen im Wald an einer Kapelle vorbei. «Da kann man beten», sagt Gustav, mein Patenkind. Ich nicke. Der 5-Jährige entdeckt die kleinen Weihwassergefässe rechts und links an der letzten Bankreihe. Fragezeichen in seinen Augen. Ich sage ihm ein paar Worte dazu, was das ist, Weihwasser. «Darf ich dich segnen?», fragt er. Steckt seinen Finger ins Wasser und schaut mich erwartungsvoll an. Ich beuge mich hinunter, gehe in die Knie. Ob er mich mit dem Wasser anspritzen wird? Ruhig zeichnet er mir ein Kreuzchen auf die Stirn. Und strahlt mich an.
Es ist schon länger her, dass mich ein Segen berührt hat, so wie mich dieser Segen berührt hat. Unerwartet, ganz einfach, von Herzen – als wäre der Segen vom Himmel gefallen. Natürlich, als Seelsorgerin im Spital war es für mich immer wieder bewegend gewesen, Menschen segnen zu dürfen. Und bis heute, wenn ich meine Eltern sehe, zeichnen wir uns zum Abschied gegenseitig ein Kreuz auf die Stirn. Was hat es eigentlich auf sich mit dem Segnen? Was erlebe ich, was erleben wir Menschen dabei, wenn wir einander segnen? Ich mache mich auf die Suche nach Erfahrungen. Und lande zuerst bei Familie Wollnik.
Familie Wollnik: Sylwia, 42 Jahre alt, Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache, Janus, 48 Jahre alt, IT-Consultant, und ihre vier Kinder Heidi (10), Robin (13), Laura (15) und David (17). Bei Familie Wollnik gibt es auch zu Hause ein Weihwassergefäss. Es hängt seit jeher an der Wand neben der Eingangstüre. Ausser momentan. Die sechsköpfige Familie ist gerade eben umgezogen: Endlich ein eigenes Haus. «Endlich ein eigenes Zimmer», sagt Laura. Ihre Schwester Heidi stimmt zu. David ist gerade mit dem Hund im Garten. Und Robin wird später vom oberen Stock zu uns an den Tisch kommen. Wir sitzen im Wohnzimmer, die Wände frisch gestrichen, aus Löchern in der Decke hängen Kabel. Noch steht kaum ein Möbel an Ort und Stelle. Und auch das Weihwassergefäss ist noch irgendwo, gut verpackt in einer Umzugskiste. «Wenn die Kinder das Haus verlassen, verabschiede ich sie mit einem Segen», erzählt Sylwia Wollnik. Der kurze Segen zum Abschied ist ein Gruss: «z Bogiem», polnisch für «Geh mit Gott». Wer das Haus verlässt, daran denkt und gerade möchte, nimmt etwas Weihwasser, macht sich selbst ein kleines Kreuz auf die Stirn. «Das ist bei uns einfach üblich.» Der Glaube beider Elternteile hat viel mit ihrer Herkunft und ihrer ursprünglichen Kultur, mit Polen zu tun. War der Glaube und der wöchentliche Gang zur Kirche in ihrer Heimat völlig selbstverständlich, brauche es hier «eigene Willenskraft, um den Glauben zu erhalten und weiterzugeben», so Janus Wollnik. Es ist zum einen der Rhythmus, der ihnen dabei hilft: auch mit ihren Kindern gehen sie jeden Sonntag zur Kirche. Und zum anderen sind es Rituale wie das Segnen, die ihnen ermöglichen, ihren Glauben gemeinsam zu leben. Gefragt nach den Gelegenheiten dafür kommt ihnen Verschiedenes in den Sinn: «Wenn wir Brot anschneiden, segnen wir es», überlegt Sylwia Wollnik. «Oder an Ostern. Die Speisen, die wir an diesem Tag frühstücken, bringen wir vorher in die Kirche, damit sie gesegnet werden.» Vor dem Einschlafen segnen sich Eltern und Kinder gegenseitig. Zumindest bemühen sie sich darum, was manchmal gar nicht so einfach ist, wenn alle zu verschiedenen Zeiten nach Hause kommen. Heidi, die Jüngste der Familie, meint dazu nur: «Für mich fühlt sich das sehr schön an.» Ich sehe, wie ihre Augen strahlen. Laura sagt, dass sie das mit dem Segnen vorm Einschlafen seit einiger Zeit nicht mehr mache. Aber sie habe eine «schöne Erinnerung» daran.
Augen, die strahlen. Wenn ich es mir recht überlege, könnte ich die strahlenden Augen eine Begleiterscheinung des Segnens nennen. Sie sind für mich ein untrügliches Zeichen dafür, was mit Menschen und in ihnen passiert, wenn sie segnen. Strahlende Augen werde ich auch bei Stefan Staubli sehen, bei dem ich auf meiner Suche als Nächstes lande.
Stefan Staubli, 60 Jahre alt, seit etwa 30 Jahren Priester, seit kurzem Pfarrer von St. Peter und Paul in Winterthur. «Segnen ist für mich eine spirituelle Nagelprobe», sagt er. Was er damit meint? «Es ist eine Schule des Vertrauens: Vertraue ich noch darauf, dass nicht alles von mir abhängt?» Auch für ihn scheint das offenbar immer wieder eine Frage zu sein. Während unseres Gesprächs sitzen wir in der Krypta, einem Kapellenraum unter der Erde, schlicht und stilvoll eingerichtet, eine grosse Kerze brennt in der Mitte. Hier hat Stefan Staubli schon viele Menschen gesegnet, auch Paare, die ihn darum gebeten haben. Er nennt das Segnen eines seiner «Kerngeschäfte». Es sei geblieben als eine Herzensaufgabe, während sich manch anderes im Bild und in der Vorstellung seiner priesterlichen Berufung geändert habe in all den Jahren. «Das Bedürfnis der Menschen nach Segen hat das in mir wachgehalten.» Um sich vertieft auseinanderzusetzen, beschäftigt er sich seit einiger Zeit mit dem Handauflegen. Berührung ist nämlich ein wichtiger Teil des Segnens, das ist seine Erfahrung: ein Kreuzzeichen auf die Stirn, die Hand auf den Kopf oder auf die Schulter gelegt. Mit dem Einverständnis des Gegenübers, das er immer zuerst erfragt, ermöglicht die Berührung mitunter die Erfahrung, wirklich spürbar gesegnet zu sein. Er sieht sich damit in der biblischen Tradition: Jesus habe gesegnet und Hände aufgelegt. Und die Impulse gehen zurück bis auf die ersten Seiten der Bibel, bis zum Schöpfungsbericht. «Am Anfang steht nicht die Ur-Sünde, sondern der Ur-Segen», erinnert Stefan Staubli und deutet es: «Wir sind durch und durch gesegnete, von Gott gutgeheissene Wesen.» Wenn er segne, dann tue er es also in dem Bewusstsein: «Wir sind schon gesegnet. Wir müssen uns den Segen nicht verdienen – und wir können ihn auch nicht verlieren.»
Zurück bei Familie Wollnik. Janus, der Vater, erzählt von der jahrtausendealten Tradition, in der er sich stehen sieht und die sie als Familie nun versuchen würden, weiterzuleben. «Was die Religion – was verschiedene Religionen – uns eröffnen, das ist doch ein menschliches Kulturgut.» Ein Kulturgut? «Zum Beispiel die Fähigkeit, dankbar zu sein, danke sagen zu lernen, und ein grösseres Gegenüber zu haben, dem ich auch als Erwachsener noch danke sagen kann.» An dieser Stelle kommt Sylwia Wollnik das neue Haus in den Sinn. Sie ist Gott dafür dankbar. «Vier Jahre, oder sogar fünf, haben wir nach einem Haus gesucht. Bislang haben wir uns in einer Viereinhalbzimmerwohnung – ich kann es nicht anders sagen – zusammengequetscht.» Sie lacht. «Da hat uns jemand von oben geholfen.» Dass sie den Priester vor Ort bald fragen werden, ihr neues Haus zu segnen, versteht sich für sie von selbst. «Ich fühle mich dann irgendwie sicher», sagt sie, «Ich weiss dann, Gott ist bei uns.» Janus Wollnik meint dazu: «Für mich ist der Segen über unser Haus wie ein Schutzeffekt und ein Wohlfühlfaktor in einem: Wir wollen hier heimisch sein, behütet und beschützt.»
«An Gottes Segen ist alles gelegen» – Stefan Staubli erinnert sich an den alten Spruch, den er schon aus Kindertagen kennt und der für ihn seine Bedeutung behalten hat. Er selbst möchte dabei gern ein «Werkzeug» sein für den Segen Gottes, «um die Menschen wieder zu verbinden mit dem Ur-Segen, der allen Menschen gilt». Allen Menschen? «Ja, allen Menschen», ist der Priester überzeugt. Dass die Institution Kirche weiterhin Einzelne auf Grund ihrer Lebensform vom Segen ausschliesse, mache ihn traurig. Aber: «Mein Bild von Gott und seiner Liebe gibt mir die Freiheit, mich nicht von Mauern einschränken zu lassen.» Wie denn sein Bild von Gott aussehen würde? Stefan Staubli antwortet langsam und sucht seine Worte. «Gott ist wie die Sonne, die gar nicht anders kann, als ihre Energie auszustrahlen … genauso könnte es doch mit dem Segen sein: Gott kann gar nicht anders, als zu segnen.»
Gehen wir nochmals zurück in den Wald, zur Kapelle und zu meinem Patenkind mit seiner Familie. Nachdem Gustav mich gesegnet hat, möchte seine ältere Schwester Matilda ihre Mutter segnen. Mit dem Weihwasser macht sie ihr einen Punkt auf ihre Stirn – «Du bist gut …» – einen Punkt auf die linke Wange – «Du bist besser …» – und dann einen Punkt auf die rechte Wange – «Du bist die beste Mami der Welt!» Jetzt strahlen alle.
Text: Veronika Jehle
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