Neuaufbruch in der Kirche Von der Hoffnung, dass Corona die Kirche verändert
Der Bundesrat beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie wir nach der Coronakrise wieder zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Normalität zurückkehren können. Für uns als Kirche entscheidet dies auch, wann wir wieder «normal» Gottesdienste feiern können. Aber sollen wir tatsächlich zur kirchlichen Normalität vor der Coronakrise zurückkehren?
Krise inspiriert zu neuen Wegen
Die durch Corona geprägte Gegenwart ist und bleibt aussergewöhnlich. Sie hat Seelsorgerinnen und Seelsorger inspiriert, kreative und vielfältige Wege der Kommunikation mit den Gläubigen zu entdecken. Gottesdienste, Gebetsimpulse, Mediations- und Gesprächsangebote stehen über Homepage, E-Mail, WhatsApp oder auch einem Livestream frei Haus zur Verfügung. Man muss nicht mal – wie bei der Pizza – bestellen, es reicht, dem Link im E-Mail oder im Internet zu folgen. Mit Erstaunen registriere ich, wieviel Energie kirchlicherseits sichtbar wurde, um mit Menschen in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Der Begriff Dienst-Leistung hat eine andere Note bekommen.
Kirche geht online
Und die «Kundschaft»? Wie viele Angesprochene diese Angebote nutzten, lässt sich wohl nur schwer eruieren. Klar ist aber: die Qual der Wahl war noch grösser. Als Kunde konnte ich mich – gerade über die Ostertage – entscheiden, welchen Gottesdienst ich mitfeiern wollte: ob mit dem Papst, dem eigenen Bischof oder gegebenenfalls mit dem Pfarrer vor Ort.
Und dann: Um welche Zeit? Die tägliche Eucharistie am Morgen mit dem Papst im Vatikan kann ich auch abends (mit‑)feiern. Ebenso stehen Impulse der Pfarrei zu einer familiären Osterfeier, wie sie beispielsweise eine Pfarrei in Lörrach ins Netz gestellt hat, rund um die Uhr zur Verfügung. Kurz und gut: Die Kirche als Onlineanbieterin ist nichts Neues, aber die Angebote sind parallel mit den Coronainfektionen exponentiell gestiegen.
Haben sich neue spirituelle Impulse entwickelt?
Es wäre im Nachhinein interessant, zu erfahren, wie viele Menschen tatsächlich diese Angebote nutzten. Haben die Impulse wirklich dazu angeregt, zuhause eine ganz eigene Osterfeier zu gestalten – vielleicht mit einem eigenen Osterfeuer und passenden Texten? Haben sich ganz neue Ideen für spirituelle Feiern am Sonntag in der Familie entwickelt? Oder blieb es tatsächlich – wie im normalen Kirchenalltag – beim reinen Konsumieren? Ist man vielleicht sogar auf den Genuss gekommen: lieber online als real (denn: da kann man besser um- bzw. abschalten)? Es wird sich zeigen.
Nähe zu den Menschen konkret
Ausserhalb der Liturgie war die Kirche ganz nahe bei den Menschen oder hat sich anerboten, ihnen zu helfen. Die ökumenische Kampagne «Wenn beten allein nicht reicht» zeigt die vielfältigen Angebote der Kirchen für Menschen in Not auf. Konkret kann beispielsweise von der Aktion «Solidarität für Zürich» Hilfe erbeten werden, wenn es darum geht, einzukaufen, mit dem Hund Gassi zu gehen oder einfach nur zu reden. Bis 16.04.2020 weist diese Website schon 1350 Einsätze von 1500 Freiwilligen aus.
Mich hat das interreligiöse Gebet in der Zürcher Bahnhofshalle berührt: Glauben und beten über alle Religions- und Konfessionsgrenzen hinaus. Es gibt noch sehr viele solcher Beispiele, durch die Menschen der Kirche engagiert und kreativ ihren Glauben durch Tat und Wort bezeugten.
Was bleibt? Ganz viele Hoffnungen!
Was bleibt? Diese Frage kann heute niemand beantworten. Deshalb möchte ich nur einige Hoffnungen äussern, die nicht neu sind, aber in der Coronazeit noch einmal verstärkt wurden.
Ich hoffe,
- dass auch weiterhin (junge) Menschen die Not der anderen, gerade auch der älteren Generation und der Armutsbetroffenen, sehen und tatkräftig Hilfe anbieten. Soziales Engagement muss zu einem festen Bestandteil der Katechese werden, also beispielsweise der Firmvorbereitung.
- dass die Kreativität lebendig bleibt, Menschen auf anderen Kanälen, wie den sozialen Medien, zu erreichen suchen. Personell und finanziell muss investiert werden in die Technologie (etwa des Streamings), um die christliche Botschaft vielfältiger unter die Leute zu bringen.
Ich hoffe,
- dass wir als römisch-katholische Kirche von unserer Eucharistiezentriertheit wegkommen und entdeckt haben, dass es an unterschiedlichen Orten sehr viele andere Weisen gibt, den Gott des Lebens zu feiern.
- dass viele die Gegenwart Gottes dort als gegenwärtig erfahren haben, wo (auch nur) zwei oder drei in seinem Namen versammelt waren.
Ich hoffe,
- dass freiwillig Engagierten Räume und Ressourcen geöffnet werden, um eigenständig neue Ausdrucksweisen von «glauben» zu gestalten. Kirchen und Pfarreizentren sollen ganz verschiedenen Gruppierungen für ganz verschiedene Formen christlich gelebten Glaubens offenstehen.
- dass Seelsorgerinnen und Seelsorger sorgfältig überdenken, ob tatsächlich alle Angebote wieder auf den Zustand vor Corona hochgefahren werden sollen.
- Auf was können wir verzichtet?
- Was hat niemand vermisst?
- Was ist wesentlich für unseren Glauben? Sind es nicht doch die persönlichen Beziehungen, das Miteinander auf Augenhöhe, die Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit von Mann und Frau, von Priester und Laie, von Alt und Jung usw.?
- Fragen wir nach den geistlichen Erfahrungen der Menschen in dieser Krisenzeit, gerade auch in Familien, und lassen wir diese weiter wachsen?
Ich hoffe,
- dass die während dieser Zeit genutzten Kontaktmöglichkeiten (Telefongespräche, Videokontakte, persönliche Briefe oder E-Mails usw.) nicht wieder zweit- oder drittrangig werden in unserer strapaziösen Sitzungskultur. Die Frage «Wie geht es dir?» oder «Was willst du, was ich dir tun soll?» muss auch weiterhin ihren Primat behalten.
- dass das Bewusstsein wächst: wir gehören unausweichlich zu dieser Menschheitsfamilie und tragen miteinander und füreinander Verantwortung für diesen unseren Planeten Erde. Die Angst, in einer global voneinander abhängigen Welt zu leben, in der ein kleiner Virus weltweiten Schaden anrichten kann, darf die Idee der «Einen Welt» und der universalen Solidarität nicht lähmen.
- dass die Einschränkungen in der Mobilität und im Konsumverhalten in dieser Zeit auch als Gewinn erkannt werden und unser ökologisches Bewusstsein erweitert haben: Weniger ist Mehr! Es muss nicht alles nachgeholt werden, auf was nun verzichtet werden musste – es lässt sich auch anders, umweltbewusster, ganz gut leben.
Ich hoffe, dass uns allen bewusst bleibt oder wird, welch hohen Wert die Gemeinschaft hat, auf die wir nun am meisten verzichten mussten. Und dass wir das, was wir kirchlich communio nennen, besonders fördern und ermöglichen – nicht nur durch die Kommunion in der Eucharistie, sondern gerade und erst recht im alltäglichen Leben.
Ich könnte noch sehr viele Hoffnungen aufzählen, die viele von uns für die Zeit nach Corona verbinden.
In unserem Wohnzimmer steht in grossen Lettern: «Momente ahnen oft nicht, wie wichtig sie sein können.» Für mich ist diese Coronazeit ein epochaler Moment, der uns zum Umdenken und Neuanfang inspiriert. Ein Moment der Krise, aus der neue Chancen erwachsen können.
Nutzen wir diesen Moment?
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