«So muss es im Kopf des Künstlers ausgesehen haben»
Wie klingt die Architektur einer Kirche? Oder wie sieht eine Melodie, auf die Leinwand gebracht, aus? Ein Kunstprojekt in der Predigerkirche gibt verblüffende Antworten, wie Thomas Münch als Mitglied des OKs und als Kunstfreund selber meint.
Bis vor ein paar Jahren konnte ich mit Bildern in der Kunst nicht viel anfangen. Natürlich bin ich auf Städtereisen mit meiner Familie immer in die Kirchen gegangen und habe mit den Kindern über die Ikonographie vor allem der Heiligen gesprochen. Und wir sind in die wichtigsten Museen der jeweiligen Stadt gegangen.
Aber irgendwann stand ich im Reichsmuseum in Amsterdam vor dem Bild «Weizenfeld mit Schnitter bei aufgehender Sonne». Da habe ich wahrscheinlich zum ersten Mal intuitiv verstanden, was Kunst in einem Menschen auslösen kann. Ich sah diese geschnittenen Weizenbündel, die kreuz und quer herumlagen und ich dachte: «So muss es im Kopf des Malers ausgesehen haben». Seit diesem Tag bin ich ein begeisterter Museumsbesucher und beteilige mich auch an dem Projekt «Kunst und Religion im Dialog» im Kunsthaus.
Seit etwas mehr als einem Jahr arbeite ich nun als katholischer Seelsorger an der Predigerkirche. Da bot sich mir die Möglichkeit, selber an einem Kunstprojekt mitzuwirken.
Raum – Farbe – Ton
Das Projekt besteht einerseits aus einem Symposium über die neuen Verhältnisse zu Bildern in Kirche und Kunst und andererseits in Kunstpositionen in den fünf reformierten Altstadtkirchen. Für mich bestand nun die reizvolle Aufgabe darin, eine Künstlerin oder einen Künstler zu finden, der den Kirchenraum der Predigerkirche als Ausgangspunkt für sein Werk nehmen würde.
Die Predigerkirche ist ein frühbarocker Bau, der ganz in weiss ausgemalt und mit wenigen Ornamenten auskommt. Der imposante Kirchenraum wirkt am besten ohne Bänke, wie zum Beispiel in der ersten Adventswoche beim Kerzenlabyrinth.
Deshalb war für mich schnell klar: in dieser Kirche braucht es Farbe. Dabei dachte ich an den Dietiker Maler und Musiker René Gubelmann, der Musik und Töne in seinen Gemälden und Statuen visuell darstellt. Normalerweise geht er so vor: er füllt einen Raum mit seiner Musik. Die Schwingungen der Töne werden dann in die Frequenzen von Farben übertragen. Deshalb lässt sich das Verhältnis von Ton und Farbe präzise visualisieren. Durch Gubelmanns grafisch-metrische Form und Anordnung von Farbnoten entstehen visuelle Toninformationen.
Wie klingt die Architektur der Predigerkirche?
Für die Predigerkirche entschied R. Gubelmann sich aus einem ganz konkreten Grund zu einem anderen Vorgehen: In der Predigerkirche ist im wahrsten Sinn des Wortes Musik «verbaut»: Die Gebäudestruktur der Kirche baut auf der Harmonielehre der Kirchentonleitern auf, sie vereint also Architektur und Musik.
Ich fand es faszinierend, mit René Gubelmann im Rahmen der Projektarbeit unsere Kirche neu entdecken zu dürfen. Wie er die Architektur in musikalischen Tönen, Akkorden und Harmonien denken und fühlen konnte und er sie dann auch bildlich umsetzte — das war beeindruckend.
Als ehemaliger Mathematiker fand ich es auch intellektuell eine spezielle Erfahrung, zu verstehen, wie das vor sich geht. Wen es interessiert: Wenn man die Seite einer Violine in der Mitte halbiert, dann erklingt ein Ton, der genau eine Oktave höher ist als der Ausgangston. Die beiden Töne haben ein Seitenverhältnis von 2:1. In der Architektur der Predigerkirche gibt es verschiedene Seitenverhältnisse. Im Hauptschiff finden sich zwischen den 12 Pfeilern fünf Rechtecke, die haben ein Verhältnis vom 8:3. Das entspricht akustisch einer grossen Sext.
Das Verhältnis von Länge und Höhe, von Höhe und Breite und von Länge und Breite der Predigerkirche einspricht einer Tonfolge, einer Quart reinen Tetrachord mit den Tönen c d es f. Solche architektonischen Seitenverhältnisse setzt René Gubelmann in visuelle Formen und Farben um. Seine Farbnotengerüste sind, rational betrachtet, nichts anderes als exakte Diagramme, die Tonhöhen festhalten.
… kompliziert? Keine Angst: Lassen Sie sich einfach drauf ein und lassen Sie ihre Sinne alles aufnehmen. Ich freue mich jedenfalls schon auf die Vernissage vom 16. Mai. Und auf die Bilder und Melodien in meinem Kopf.
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