«Das neue Evangelium» von Milo Rau Revolte für die Letzten
Mit seinem Film «Das neue Evangelium» hat Milo Rau ein anspielungsreiches, etwas gar intellektuelles, aber in jedem Fall sehenswertes Werk geschaffen. Ein Ouevre zur Passion, mit Pasolini und Politik als treibenden Kräften.
Seit bekannt wurde, dass sich Milo Rau mit dem Matthäus-Evangelium befasse, wartete man gespannt: Der Schweizer Regisseur und Theaterautor hatte sich mit politischen Theaterprojekten und Arbeiten in Ruanda, im Kongo, im Irak und in Syrien einen Namen gemacht. Wie würde er mit dem biblischen Stoff umgehen? Nun ist der Film online als Kino on Demand auf dieser Website verfügbar. Wenn möglich wird er auch bald in den Kinos zu sehen sein.
Grundlage von Raus Film ist Pier Paolo Pasolinis Meisterwerk «Das 1. Evangelium – Matthäus» aus dem Jahre 1964. Damals staunte die Filmwelt, dass sich ein erklärter Marxist und Kirchenkritiker jenes Evangeliums annahm, das zwar zeitlich gesehen nicht das früheste ist, aber am Anfang des Neuen Testaments steht. Unter den Bibelfilmen hatten bis dahin Hollywood-Produktionen dominiert. Ohne kritische Absicht wollten sie dem breiten Publikum religiöse Geschichten, interpretiert von Starschauspielern, zur Erbauung vor Augen führen. Pasolini hingegen wählte vor allem Laiendarsteller aus, unter anderem seine eigene Mutter als Maria und den jungen Jura-Studenten und heutigen, einflussreichen und kontroversen Philosophen Giorgio Agamben als Apostel Philippus. Er drehte in der süditalienischen Stadt Matera und setzte starke sozialkritische Akzente. Wie eine fleischgewordene Ikone schwebt sein Jesus durch die bekannten biblischen Szenen, heilt, stirbt und entschwindet. Vor allem aber, und da entspricht er stark dem Jesus des Matthäus-Evangeliums, predigt er. Wiederholt beschimpft er die religiösen und politischen Autoritäten seiner Zeit aufs schärfste, immer mit Original-Zitaten aus dem Matthäus-Evangelium. Pasolinis Streifen gilt bis heute als der formal und inhaltlich bisher gelungenste Film über Jesus. Alle danach entstandenen Jesus-Filme beziehen sich auf ihn oder zitieren ihn ausdrücklich; Martin Scorseses «Die letzte Versuchung Christi» (1988) genauso wie Mel Gibsons «Die Passion Christi» (2004). Letztere wurde teilweise ebenfalls in Matera gedreht.
Es liegt nahe, dass Milo Raus Werk seinerseits in Süditalien und insbesondere in Matera spielt und vielfach Bezug nimmt auf Pasolinis Arbeit. Denn Rau ist der Meinung, dass Jesus damals eine Revolte für die Letzten begann. Zum Film führte ihn die Frage, wo und wie Jesus heute kämpfen würde.
In Süditalien stranden heute unzählige Frauen und Männer, die nach Jahren der Flucht gezeichnet sind von Erniedrigung und Qual und doch noch auf ein neues Leben hoffen. Enrique Irazoqui, der Jesus-Darsteller bei Pasolini, ist jetzt Johannes der Täufer. Manchmal erteilt er dem politischen Aktivisten Yvan Sagnet aus Kamerun, der nun den Messias verkörpert, Schauspiel-Tipps. Sagnet wiederum war 2011 eine treibende Kraft beim allerersten Streik, den Feldarbeiter mit Migrationshintergrund in Italien organisierten. Rau setzt etliche, im Matthäus-Evangelium berichtete Ereignisse, parallel mit dokumentarischen Szenen aus dem Leben von Geflüchteten und mit Szenen vom Engagement süditalienischer Landarbeiter für bessere Arbeitsbedingungen.
Zuweilen montiert der Regisseur einzelne Passagen um Migration, Elend des Mezzogiorno, Mafia und Passion hinreissend und beklemmend zusammen. Ein junger Süditaliener beispielsweise bewirbt sich in einer Casting-Szene für die Rolle als Soldat. Denn «als Katholik» finde er es aufschlussreich, «den heiligen Gott zu töten und zu massakrieren». Dann beginnt er zu üben. Mit einem Stuhl führt er vor, wie er den schwarzen Jesus peitschen und demütigen würde. Und unversehens scheint aus Proben-Spiel Realität zu werden. In den Peitschenhieben und zynischen Sprüchen des Bewerbers scheint nicht nur der Hass des Einheimischen auf die Neuankömmlinge aus Afrika durchzuschimmern, sondern auch die Barbarei der Schergen, die Jesus damals erniedrigten. Gleichzeitig wirkt die Geisselung eines Stuhls wie eine ironische Distanzierung Milo Raus von den nicht enden wollenden, blutrünstigen Geisselungsorgien im Film von Mel Gibson.
Zuweilen allerdings wirkt Raus anspielungsreiche Montage, wirken seine mehrfach verfremdeten Inszenierungen zu intellektuell, zu theorielastig, zu steril. Während sich die Jesus-Figur bei Pasolini Hintergründigkeit, Überzeitlichkeit und Transzendenz bewahren konnte, verlieren sich diese Eigenschaften im «Neuen Evangelium», weil sich Dekonstruktion an Dekonstruktion reiht und der Erzählfluss ständig gebrochen wird. Auch etwas mehr Vertrauen in die herausragenden Gesichter einzelner Darsteller und ihr Spiel hätte dem Film und seinen sozialpolitischen Anliegen gutgetan.
Pasolini wollte damals nach eigenen Angaben «ein Werk schaffen, das auf die Möglichkeit eines Dialogs zwischen Marxisten und Katholiken hinweisen könnte.» Aus diesem Grunde war der Film Papst Johannes XXIII. gewidmet, «dem Papst, der für alles Verständnis hatte, selbst für die Ungläubigen». Rau hat sein ambitioniertes Projekt mit keiner Widmung versehen, weckt mit ihm aber neues Interesse für die verwandelnden Energien der ursprünglichen Jesus-Erzählung. Sein sehenswerter Passionsfilm ist ein schwergewichtiges Gesprächsangebot für alle Menschen, die sich nicht damit abfinden wollen, wie es Flüchtlingen im Mittelmeer oder süditalienischen Landarbeitern ergeht.
Hier der Trailer zum Film.
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