Dokumentarfilm RUÄCH Es geht um Berührungsängste und Koexistenz
Vor neun Jahren fing alles an mit einem Anruf von Serge. Ein Jenischer, den Regisseur Andreas Müller durch die Recherche an einem historischen Spielfilmprojekt kennen gelernt hatte. Für ihren aktuellen Film RUÄCH ist er zusammen mit Simon Guy Fässler (Koregie und Kamera) in eine Welt gereist, die vielen unbekannt ist – mitten im Herzen Europas. Die Jenischen pflegen eine eigene Sprache und Kultur, die ursprünglich aus einer reisenden Lebensweise entstanden ist und heutzutage meist semi-nomadisch und teils auch sesshaft gelebt wird.
Es ist nicht leicht, Zugang zur jenischen Community zu erhalten, beschreibt Andreas Müller. «Serge hat uns Zugänge angeboten, geschaffen und so geholfen, Vertrauen aufzubauen. Ohne seine Initiative wäre dieser Film nicht entstanden». Vor schneller Berichterstattung, die einzelne Aspekte aus dem Kontext herauszieht und transportiert, haben Jenische Angst.
RUÄCH wird derzeit zweimal täglich im Zürcher Kino «Riffraff» Neugasse 57-63, 8005 Zürich gezeigt. Tickets gibt es hier.
Der Zürcher Filmemacher erinnert sich: «An einem Ort waren wir anfangs unsicher und haben gezögert, mit der Kamera aufzutauchen. Wir wollten niemanden erschrecken.» Aber es kam anders als erwartet: «In dem Moment als Guy die Kamera zum Vorschein brachte, gab uns das eine Glaubwürdigkeit, dass wir auch tatsächlich einen Film machen und keine Hochstapler sind.»
Kinderverschleppung im grossen Stil
Das Ergebnis ist kein Film über die Jenischen. Es ist ein Film, der gemeinsam mit Jenischen entstanden ist. Die Message ist nicht: «Guckt mal, so leben die. Unser Film wirbt für Toleranz und Akzeptanz von Koexistenz in einer vielfältigen Gesellschaft, in der verschiedene Lebensformen nebeneinander und miteinander zurechtkommen und mahnt zur Rücksichtnahme.»
«Durch die sehr persönlichen Begegnungen mit jenischen Personen hoffen wir, dass das Publikum Berührungsängste und Vorurteile abbauen kann, die Jahrhunderte lang kultiviert wurden. Und nebenbei gibt es eindrückliche Landschaftsbilder und Ausschnitte aus Lebensentwürfen, die sich durch eine grosse Nähe zur Natur auszeichnen.»
Schon seit Jahrhunderten werden die Jenischen aufgrund ihrer nomadischen Lebensweise in Europa ausgegrenzt und stigmatisiert. Bis in die 1970er Jahre wurden in der Schweiz jenische Kinder systematisch ihren Familien entrissen und im Rahmen des «Hilfswerks Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute in sesshafte Familien fremdplatziert. Eine strafrechtliche Aufarbeitung hat bis heute nicht stattgefunden.
Vielerorts fehlen Stellplätze
In der Schweiz gehen offizielle Zahlen von etwa 35000 jenischen Menschen aus, wovon 2500 noch aktiv die reisende Lebensart pflegen. Erkenntnisse ohne exakte Zahlen gibt es über Jenische Gruppen neben den deutschsprachigen Ländern aus Frankreich, Benelux-Staaten und Italien.
«Umso wichtiger ist es, die Jenische Kultur in der Gesellschaft als festen Bestandteil einer vielfältigen europäischen und schweizerischen Kultur stärker wahrzunehmen und anzuerkennen», sagt Andreas Müller.
Sieben Jahre lang haben er und Simon Guy Fässler Jenische Familien in der Schweiz, in Frankreich und Österreich immer wieder getroffen und mit ihnen gefilmt und sie haben dabei erlebt, wie hart die Jenischen tagtäglich für die ihnen zustehenden Rechte kämpfen müssen.
«Es fehlen oft Stellplätze für Wohnwagen», erklärt Müller, «dabei ist in der Schweiz grundsätzlich jede Gemeinde mit mehr als 4000 Einwohner:innen gesetzlich dazu verpflichtet, Standflächen für die Jenischen bereitzustellen.» In Sachen faktischer Gleichstellung gelte es für die «Ruäche» – wie Jenische die Nicht-Jenischen bezeichnen – also noch einiges zu tun.
Der in Zürch lebende Filmemacher Andreas Müller (48) hat an der ZdHK Filmregie studiert. Für sein Debut JOSHUA erhielt er zahlhafte internationale Auszeichnungen, darunter die Nominierung für den European Short Méliès d’Or.
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