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Neue Ausgabe forum Pfarrblatt Kulturgut «Bier»

Seit über 9000 Jahren ist Bier ein Alltagsgetränk. In den Klöstern wurde seine Herstellung zur Kunst. Heute blüht die Bier-Szene wie noch nie. Besuche bei vier Menschen, die für gutes Bier brennen.
04. August 2024 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Lassen wir die Geschichte im alten Rom beginnen, wo Laurentius auf einem glühenden Eisenrost zu Tode gefoltert wird. Wir schreiben das Jahr 258. Die Römer sind noch Römer und die Christen eine verfolgte Minderheit. Laurentius hat sich nach der Enthauptung des Papstes geweigert, das Kirchenvermögen an den römischen Kaiser zu übergeben. Ergo muss er sein Leben lassen und zum Märtyrer werden.

So dramatisch geht es knapp 1800 Jahre später bei «St. Laurentius Craft Beer» in Bülach Süd nicht mehr zur Sache. Aber beim Eingang zum Sudhaus hängt tatsächlich symbolisch ein Laurentius-Rost, so wie er auch im Stadtwappen Bülachs auftaucht. «Laurentius ist der Stadtheilige Bülachs und Patron der Brauer. Er passt deshalb bestens zu uns. Wir haben das Gefühl, er beschützt uns tatsächlich.»

Sarah Hiltebrand hat «St. Laurentius» zusammen mit ihrem Mann John vor neun Jahren gegründet. Die Kleinbrauerei hat inzwischen weit über die Region hinaus einen exzellenten Ruf. Gar nicht klein ist allerdings die Auswahl an Bieren, die hier entstehen. 16 Sorten sind es derzeit. Und Sarah lässt durchblicken, dass dies vor allem Brauer John geschuldet ist. «Wirtschaftlich macht es wenig Sinn, so viele verschiedene Biere anzubieten, aber weil wir als Paar und junge Familie wegen des Betriebs viele Einschränkungen auf uns nehmen, wollen wir wenigstens unsere Leidenschaft möglichst kompromisslos ausleben.»

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Auf einer Reise durch die USA wurden Sarah und John Hiltebrand zu Fans der Craftbeer-Szene. Heute mischen sie selbst in dieser Szene mit und werden dabei vom Bülacher Stadtheiligen St. Laurentius beschützt. (Foto: Christoph Wider)

Sarah kommt ursprünglich aus dem Marketing. John war einst Programmierer. Auf einer Reise durch die USA nahm das, was heute Bierkenner mit etwa 170 000 Litern Bier pro Jahr versorgt, seinen Anfang. An der Westküste entdeckte das Paar Craft-Biere, die es nur bei den Produzenten zu trinken und zu kaufen gab. Zurück in der Schweiz wurden sie zunächst zu Hausbrauern, bis 2015 nach einem erfolgreichen Crowdfunding das Hobby zum Beruf mutierte.

Noch heute ist die amerikanische Craftbeer-Szene ihr Vorbild. Zur Brauerei gehört deshalb ein Pub, wo jedes Bier seinen eigenen Zapfhahn hat. Mit gewinnendem Lachen fügt Sarah an, das Restaurant sei entgegen jeder Marktlogik positioniert, weil sie keine bestimmte Zielgruppe definiert hätten, sondern für alle Altersgruppen, Lebenslagen und Gehaltsklassen da seien. «Wir sind in Bülach verwurzelt und greifbar. Bei uns sollen Menschen aller Art zusammenkommen.» Sogar das Selbstbedienungskonzept trägt zum Gemeinschaftserlebnis bei, weil hier die Menschen beim Anstehen miteinander ins Gespräch kommen.

Ist Bier Kultur? – Die Stadt Bülach hat diese Frage für sich beantwortet und Sarah 2022 den Kulturpreis verliehen. Begründet wurde das unter anderem damit, dass sie «Menschen zusammenbringt, Verbindung herstellt und Events organisiert. Damit schafft sie unentwegt neue Räume für Kultur und Geselligkeit.»

Am eindrücklichsten ist Sarah das mit der alljährlichen Bierwanderung gelungen, die im Herbst bereits zum siebten Mal stattfinden wird. «Bei der ersten kamen um die 300 Menschen. Bei der letzten waren es 1400. Alles ist unkompliziert: Man muss sich nicht anmelden. Es braucht kein Ticket. Und man kann anfangen, wo man will.»

Gibt es für Sarah Grenzen des Wachstums? «Wir ziehen sie ziemlich genau dort, wo wir jetzt angelangt sind. Mehr als 220 ‘000 Liter pro Jahr wollen wir nicht produzieren. Und wir möchten auch nicht mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen.» Sarah und John wollen die persönliche Note unbedingt beibehalten. Dazu gehören auch die Gäste, die von ihren Ferien-reisen exotische Biere mitbringen und die Hiltebrands damit beschenken. «Ruhige Momente gibt es in unserem Leben wenige. Aber wenn wir diese Biere nach Feierabend unter uns Mitarbeitenden teilen, dann ist da für einen Moment nur noch purer Genuss.»

Bis ins Mittelalter war das Bierbrauen in Frauenhand. Das Brauen gehörte wie das Backen zum alltäglichen Haushalten. Und wo es Brauhäuser gab, wurden auch diese von Frauen betrieben. Damals rettete Bier tatsächlich Leben, denn das Getränk war abgekocht und damit keimfrei. Zur eigentlichen Kunst entwickelte sich das Brauen dann in den Klöstern des Mittelalters. Die Äbtissin Hildegard von Bingen entdeckte Hopfen als Heilpflanze: «Mit seiner Bitterkeit hält er gewisse Fäulnisse von den Getränken fern, denen er beigegeben wird, so dass sie umso haltbarer sind.» Hildegard empfahl Bier als Stimmungsaufheller und zur Förderung der Regeneration. «Man trinke Bier!», hielt sie kurz und bündig in ihrer Schrift «Causae et curae» fest und revolutionierte damit die Braukunst.

Heute sind Bierbrauerinnen wie Natalie Sigg in der Minderheit. Mit 35 geht die Gastrofachfrau nochmals in die Lehre. Sie lässt sich in Winterthur bei «Chopfab Boxer» zur Brauerin ausbilden. Hier fassen die grössten Tanks 100 ‘000 Liter. «Je grösser die Brauerei, desto weniger romantisch ist das Handwerk. Vieles geschieht hier automatisch. Eine unserer wichtigen Aufgaben ist das Überprüfen und Testen. Aber wir nehmen den Hopfen immer noch in die Hand und geben teilweise eigenhändig Malz hinzu.»

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Gutes Bier braucht Pflege und Aufmerksamkeit. Für Natalie Sigg ist das viel mehr als ein Job. (Foto: Christoph Wider)

Natalie ist am Ende des ersten Lehrjahres angekommen. Im Dreiwochenrhythmus wandert sie durch die Abteilungen: Vom Sudhaus in den Keller und dann zur Abfüllung – und wieder von vorn. Sie braut, filtriert, separiert, stopft Hopfen ins Bier, um das Aroma zu verstärken, testet im Labor, arbeitet sich durch alle Abläufe von der Anlieferung der Rohstoffe bis zum vertriebsfertigen Bier. Natalie kennt inzwischen jede Rohrleitung im Betrieb, weiss genau, wo sie hinführt und wozu sie benutzt wird.

Ihre Begeisterung für das Handwerk ist ansteckend. Immer begieriger will man wissen, dass beispielsweise ein «ehrliches» Lagerbier besonders anspruchsvoll herzustellen ist, weil man beim Brauprozess kaum eingreifen kann. Jede ihrer Informationen verlangt nach einer neuen Frage. Und so verrät Natalie auch noch, dass die Wirkung der Hefe erst relativ spät entdeckt wurde. Dass man für Sauerbier eigene Geräte braucht, weil diese nicht mehr für andere Biersorten benutzt werden können. Und dass bei «Chopfab Boxer» aus regionalem Wasser mittels modernster Technik hochqualitatives Brauwasser aufbereitet wird. Dadurch wird eine gleichbleibende Wasserqualität gewährleistet, was einen positiven Einfluss auf Qualität der Biere hat. Und wie ist das mit der braunen Flasche? «Bier muss vor UV-Licht geschützt  werden, weil sich sonst innert kürzester Zeit ein Fehlgeschmack entwickelt. Man nennt ihn Skunk--Aroma. Was früher Steinkrüge mit Deckel waren, sind heute die braunen Flaschen.»

Kurz bevor die Zeit um ist, sagt Natalie dann noch, dass sie auch nach ihrer dreijährigen Lehre erst am Anfang stehen werde. Und man wünscht sich, dass sie sich dann immer noch genauso begeistert auf jede neue Frage stürzt – und uns davon erzählt. Einen letzten Tipp? «Wer Bier bewusster geniessen will, der sollte es mit retronasalem Trinken versuchen. Nach dem Schlucken nicht durch den Mund, sondern durch die Nase ausatmen. Dadurch lassen sich die verschiedenen Geschmacksnoten viel intensiver wahrnehmen.»

Von 1935 bis 1991 herrschte in der Schweiz ein Kartell über den Bierkonsum. Einige Grossbrauereien bestimmten, was getrunken wurde: hauptsächlich Lager. Und Experimente wurden verhindert, denn nur Wasser, Hopfen, Malz und Hefe durften verwendet werden. Bier war ein normiertes Einheitsgetränk geworden, simpler Durstlöscher und Rauschmittel. In einem Restaurant ein belgisches Wit, ein englisches Stout oder ein amerikanisches Craftbeer zu kriegen, war praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. 1990 gab es in der gesamten Schweiz gerade noch 32 registrierte Brauereien. Erst durch die Auflösung des Kartells kam wieder Leben in die Brauszene. Dafür aber richtig. 2023 verzeichnete das Bundesamt für Statistik 1192 steuerpflichtige Brauereien. Eine davon ist die Lutz Brauerei in Pfäffikon am Zürichsee.

Wenn Flavio Lutz sein Bier braut, muss die Waschküche im Elternhaus geräumt werden. Flavio ist einer von unzähligen Mikrobrauern, allerdings mit professionellem Hintergrund, wie wir noch erfahren werden. Sein Gerätepark ist überschaubar. Er besteht im Wesentlichen aus einem Sudtopf, vier Tanks, einer Kühlanlage, Messgeräten und einem Abfüllgerät. Wenn Flavio ganz beiläufig und mit der ihm eigenen Seelenruhe die Handhabung der Geräte erklärt, dann klingt alles logisch und unkompliziert. Als könnte man gleich loslegen. Gleichzeitig ahnt man, dass genau das ein Trugschluss wäre.

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Noch entsteht das Bier von Flavio Lutzmann im Keller des Elternhauses. (Foto: Christoph Wider)

Für Flavio ging es an jenem Geburtstag los, an dem ihm seine Eltern ein Bierbrauset aus dem Warenhaus schenkten. «Es war simpel: Bierkonzentrat im Wasser aufkochen, Hefe rein. Fertig. – Das Ergebnis konnte man nicht trinken!» Aber Flavio dachte sich: «Das geht besser!» Für die nächsten Versuche belegte er den Küchenherd mit einem Brautopf. Und so richtig ernst wurde es, als er seine erste automatisierte Anlage besorgte: «Die hat um die 2500 Franken gekostet. Mir war klar: Jetzt musst du es durchziehen!»

Inzwischen steht der gelernte Logistiker unmittelbar vor dem Abschlussjahr seiner Lehre als Brauer in der Brauerei Baar. Flavio hat sein Hobby zum Beruf gemacht – und den Beruf zur Leidenschaft. Im Schnitt zweimal pro Monat braut er in seiner Freizeit seine eigenen Kreationen. Jeweils gegen 60 Liter Bier wirft ein Sud ab. Vier bis sechs Wochen dauert es, bis es trinkbereit ist. So entstehen ein Blond, ein Wit, ein IPA und neuerdings auch das Argentina Golden Ale. «Darauf gekommen bin ich durch eine Doku über die amerikanische Craftbeer-Szene. Darin schwärmen sie von argentinischem Hopfen. Ich habe danach rausgefunden, wie ich in der Schweiz an diesen Hopfen komme. Zur Verfeinerung des Geschmacks gebe ich noch neuseeländischen Hopfen hinzu.»

Flavio ist ein leidenschaftlicher Tüftler. Und die «Bierfamilie», wie er sie nennt, steht für Nerds wie ihn weit offen. Wenn er auf Reisen andere Bierkulturen kennenlernen und eine Brauerei besuchen will, dann empfängt man ihn herzlich und offen: Reinschauen, probieren, fachsimpeln, sich austauschen, das gehört offenbar zur DNA dieser Szene.

Seit 2020 steht die Lutz Brauerei im Brauerverzeichnis. Kontrolliert von einem Lebensmittelinspektor. Mit einem kleinen Webshop. Und einem originellen Markenbotschafter. Flavio, sein Bruder Armando, der für das Marketing zuständig ist, und ein paar Freunde vom Unihockey spielen als «Team Lutzbräu» an Grümpelturnieren mit.

Und was macht nun die Kunst des Bierbrauens aus? – Flavios Antwort fällt kurz und trocken aus: «Die Kunst besteht darin, auch in einem schlechten Hopfenjahr ein Bier hinzukriegen, das dem Rezept entspricht und die Qualität hält.» Das haben sie alle gemeinsam, Sarah, John, Natalie und Flavio: Das Geheimnis ihrer Bierbraukunst steckt in der hingebungsvollen Liebe zum Detail.

Text: Thomas Binotto