Generationen Geschwister: Grosse Nähe und grosse Konflikte
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Die Fast-Zwillinge
Bernadette Braun-Locher und Victor Locher wurden als Kinder oft für Zwillinge gehalten, haben viel und intensiv zusammen gespielt. «Als einziges Mädchen unter drei Brüdern war Bernadette schon ein wenig das Huhn im Korb», sagt Victor. «Du warst sehr souverän uns Jungs gegenüber.» – «Wirklich?», wundert sich Bernadette. Woran sie sich jedoch gut erinnert: «Ich war die Vertraute: Wenn einer der Brüder was zu besprechen hatte, kam er zu mir.» Daran kann sich nun Victor nicht mehr so genau erinnern, dafür daran: «Bernadette hatte als Einzige ein Einzelzimmer, wir drei Buben waren im gleichen Zimmer.»
War Victor eifersüchtig? «Vielleicht schon. Es gab eine Zeit, wo ich fand, ich sei nichts Besonderes: nicht der Älteste, nicht der Jüngste, und nicht das einzige Mädchen. Einfach nur dazwischen. Da hatte ich schon das Gefühl, zu kurz zu kommen.» Als einzige Tochter habe Bernadette eine spezielle Beziehung zum Vater gehabt, erinnert sich Victor: «Wenn er finster in die Welt blickte, konntest du ihn zum Lachen bringen. - Ich dachte hingegen, ich sei schuld, wenn er verstimmt war, wusste aber nicht wieso.»
Bernadette kontert, dass auch Victor eine besondere Position hatte: «Du hast unter den Jungs den Tarif durchgegeben. Der Älteste war zurückhaltend, der Jüngste zu klein, du warst Wortführer.» Zudem habe er die Mutter um den Finger gewickelt. – «Stimmt, Muetti war ein Fan von mir, weil ich in der Schule und der Musik gut war. Ausserdem lobte ich als Einziger ihre Küche!» Seine Mutter habe deshalb für ihn extra Omeletten zum Frühstück gemacht.
Bei aller unterschiedlichen Erinnerung sind sich die Geschwister einig, dass sie «ein gutes Tandem» waren: «Wir hatten ähnliche Interessen, haben zusammen Hausaufgaben gemacht und viel musiziert!» – «Er ohne zu üben, ich mit Üben!» – «Stimmt gar nicht! Ich habe viel geübt!» Vermutlich, so kommen sie überein, hat Victor einfach gerne geübt, während Bernadette sich dafür mehr überwinden musste.
«Seit wir eigene Familien haben, sind wir uns nicht mehr gleich nahe», sagt Bernadette. «Aber viele Grundwerte teilen wir weiterhin», fügt Victor hinzu, «Glaube, Sinn für Gerechtigkeit, soziale Gesellschaft, Ehrlichkeit …»
Bernadette hat eine gute Beziehung zu Victors Frau, während Victor speziell mit Bernadettes Sohn, seinem Göttibub, verbunden ist. Und jetzt, wo sich neue Fragen durch die älter werdenden Eltern stellen, «da ziehen wir am selben Strick».
«Wir zwei wollten doch immer heiraten», schmunzelt Bernadette. «Genau! Und als wir herausfanden, dass das nicht geht, beschlossen wir, Pfarrer und Pfarrhaushälterin zu werden.»
Anna-Lena hätte immer gerne mit Judith und deren Freundin gespielt, diese liessen das jedoch nicht zu. «Aber Barbie haben wir gespielt», wirft Judith ein. «Stimmt. Nur ging das so: Du hast gespielt und ich habe zugeschaut!». Alle lachen und Judith hält fest: «Das Schöne ist: Heute sind wir auf Augenhöhe, wir haben viele gemeinsame Themen. Das finde ich megaschön, wie sich das verändert hat.» Wie viele Kinder die jungen Frauen später mal haben möchten, darüber haben sie sich noch keine Gedanken gemacht. «Aber sicher mehr als eines.»
Bruderkämpfe
«Hermann war für mich immer der grosse Bruder», sagt Erwin Wagenhofer, der Grossonkel von Judith und Anna-Lena. «Und wie es bei Brüdern so ist: Manchmal hatten wir es gut, und manchmal gab’s Chritz – auch weil ich als Kind ziemlich jähzornig war.» Hermann schmunzelt: «Endlich gibst du es zu!»
Aber grundsätzlich habe der Grosse immer gut zum Kleineren geschaut, räumt Erwin ein: «Er hat mich hinten auf seinem Velo sitzend in den Kindergarten gefahren.» Voller genüsslicher Nostalgie erzählen die beiden, wie sie einander gereizt haben, einander nachjagten und wer jeweils mit Genugtuung oder frustriert aus den Bruderkämpfen hervorging.
«Aber eigentlich habe ich meinen kleinen Bruder vergöttert», sagt Hermann. Er habe ihn mal aus lauter Liebe in dessen «knusprige Pausbacken» gebissen, was gar keine Gegenliebe fand. «Meine Mutter schimpfte natürlich ausschliesslich mit mir, da der Kleine immer so herzerweichend weinen konnte, wenn es zwischen uns zum Streit kam. – Aber da er mich bewunderte, hat er auch immer gemacht, was ich sagte. Somit war das insgesamt für mich in Ordnung.»
«Wir haben uns immer geschätzt», fährt Erwin fort. Hermann sei als Erster aus Österreich, wo sie aufgewachsen seien, in die Schweiz gezogen. Er selbst habe zunächst in Deutschland gearbeitet, hatte aber viel Heimweh. «Ich hatte regelmässig Kontakt mit Hermann, der irgendwann sagte: Komm doch auch in die Schweiz.»
Als Erwin hier eine Stelle gefunden hatte, waren Hermann und Hedy sein soziales Netz. «Hedy hat wunderbare Spätzle gemacht, und ging jeweils davon aus, dass sie auch am nächsten Tag noch davon essen könnten. Ich habe jedoch immer alles weggeputzt, wenn ich bei ihnen war.»
«Es gab allerdings auch Zeiten, wo es schwierig war», erinnert sich Erwin. «Meine Frau hatte Mühe mit Hermann und Hedy. Für mich war das sehr belastend, ich sass zwischen Stuhl und Bank.»
Er habe nie ganz verstanden, welcher Art die Probleme seiner Frau waren – und die belastende Situation dauerte an. Er habe das negative Gefühl seiner Frau akzeptieren müssen, denn «sie hat das so gespürt, es war ihre Wirklichkeit». Erst vor fünf Jahren sei es gelungen, dass alle vier ein Gespräch führen konnten und die lange unausgesprochenen Themen sorgfältig angegangen wurden. «Endlich konnte das vorher für mich nicht Fassbare geklärt und auch aufgelöst werden.»
Eiszeit zwischen den Geschwistern
«Wir spürten ebenfalls jahrelang eine Spannung in meiner Familie und wussten nicht, was los war», erzählt nun Hedy. Sie war mit Hermann und den kleinen Kindern nach Deutschland zu ihrem Vater gezogen – auf dessen Wunsch und weil niemand von Hedys Geschwistern dorthin wollte.
Hedys Vater überschrieb ihnen daraufhin das Haus. «Für mich war es sehr schwierig. Ich hatte den alten Vater und eine Tante im Haus, dazu vier kleine Kinder. Ich wurde richtig krank davon.» Schliesslich zog die Familie mit dem Einverständnis des Vaters zurück in die Schweiz.
«Die anderen Geschwister dachten – das erfuhren wir aber erst viel später –, wir seien nur gekommen, um uns das Haus unter den Nagel zu reissen. Dabei hatten wir es wieder auf den Vater überschrieben, als wir wegzogen.»
40 Jahre lang war Eiszeit zwischen den Geschwistern. Und Hedy wusste die ganze Zeit nicht, weshalb. Bis zwei Schwestern im gleichen Jahr Witwen wurden. «Da haben wir die beiden mit uns in die Ferien nach Italien eingeladen. Wir hatten viel Zeit. Und irgendwann konnten die schwierigen Fragen angesprochen werden», erzählt Hermann. «Vorher hatten sie bei diesem Thema immer abgeblockt. Nun endlich konnten wir reden. Da hat es sich endlich gelöst.»
Judith und Anna-Lena hören mit grossen Augen zu. Sie schauen sich an und Judith sagt: «So etwas machen wir aber nie. Wir reden sofort miteinander, wenn etwas zwischen uns steht, gell!» Anna-Lena nickt heftig.
Enterbte Schwester
«Als die gesundheitliche Situation meiner Eltern immer schwieriger wurde, ist die älteste Schwester, auch sie bereits Witwe, zu ihnen gezogen», erzählt Hermann. Als nach einigen Jahren die Mutter starb, hatte diese – in Unkenntnis der Sachlage und bei beginnender Demenz – ihr Geld nur den Söhnen vermacht. Die Tochter sollte die Einrichtung der Mietwohnung bekommen – die natürlich keinen Wert hatte. Der älteste Bruder, für die Finanzen der Eltern zuständig, wollte an dieser Verteilung nichts ändern. Es brauchte schriftliche Interventionen von Hermann und Erwin, damit die Schwester zu ihrem Erbe kam.
«Schon als sie noch bei den Eltern den Haushalt machte, wollten die anderen Brüder, obwohl sie in der Nähe wohnten, sie nicht wirklich entlasten, noch sahen sie ein, dass sie eigentlich für ihre Tätigkeit hätte entlöhnt werden müssen», erinnert sich Erwin.
«Wow, das war also früher die Stellung der Frau!», stöhnt Bernadette. Erwin und Hermann hatten damals Schwester und Eltern so oft wie möglich in die Schweiz geholt, um sie wenigstens ein wenig zu entlasten. Kürzlich, zum 80. Geburtstag von Hermann, hat er nun alle Geschwister eingeladen. «Sie hatten es sehr lustig», berichtet Hedy. Und gerade der Älteste, Schwierigste, inzwischen an leichter Demenz leidend, habe es besonders genossen. Auch das ein versöhnlicher Moment.
Der Streuselkuchen ist aufgegessen, es ist Zeit zu gehen, obwohl alle noch vieles zu bereden hätten und der Abschied fast kein Ende nimmt. «Miteinander reden. Das ist das A und O!», ist Hermann überzeugt. «Man muss auch mal eigene Verletzungen wegstecken können. Aber es lohnt sich!» – Die Enkeltöchter umarmen ihn und die Grossmama lange.
Text: Beatrix Ledergerber
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