Sonntagsbrief Eine tote Kirche anzweifeln
Als Jesus kam, war Thomas, genannt der Zwilling, einer aus dem Kreis der Zwölf, nicht dabei gewesen. Die anderen Jünger erzählten ihm: «Wir haben den Herrn gesehen!» Thomas sagte zu ihnen: «Niemals werde ich das glauben! Da müsste ich erst die Spuren von den Nägeln an seinen Händen sehen und sie mit meinem Finger fühlen und meine Hand in seine Seitenwunde legen – sonst nicht!» Eine Woche später waren die Jünger wieder im Haus versammelt und Thomas war bei ihnen. Die Türen waren abgeschlossen. Jesus kam, trat in ihre Mitte und sagte: «Frieden sei mit euch!» Dann wandte er sich an Thomas und sagte: «Leg deinen Finger hierher und sieh dir meine Hände an! Streck deine Hand aus und lege sie in meine Seitenwunde! Hör auf zu zweifeln und glaube!» Da antwortete Thomas: «Mein Herr und mein Gott!» Jesus sagte zu ihm: «Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Freuen dürfen sich alle, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!»
(Die Gute Nachricht, Joh 20, 24-29)
Wer ist der Zweifler Thomas?
Wir alle kennen diese Geschichte vom ungläubigen Thomas. Aber was wissen wir eigentlich über ihn? Steht Thomas archetypisch für alle Jüngerinnen und Jünger Jesu, die am Ostersonntag nicht dabei waren – also auch für uns alle – oder steckt etwas anderes dahinter?
Die Evangelisten Markus und Lukas erwähnen Thomas nur in ihren Apostellisten. Matthäus erwähnt in gar nicht. Johannes aber lässt ihn dreimal in den Mittelpunkt treten und reden. Besonders interessant scheint mir sein Auftritt im 11. Kapitel. Jesus will wieder nach Judäa gehen, obwohl er weiss, dass es dort für ihn gefährlich ist. Einige Jünger warnen ihn, aber Thomas sagt: «Auf, gehen wir mit Jesus und sterben mit ihm!» (Joh 11,16)
Wo ist das Äusserste?
Thomas ist also bereit. Er steht so sehr zu Jesus und seinen Entscheidungen, dass er mit ihm sterben würde. Er würde mit Jesus bis zum Äussersten gehen, zum eigenen Tod. Nun ist Jesus tatsächlich gestorben, qualvoll hingerichtet worden, und Thomas ist nochmal davongekommen. Und jetzt sagen die anderen, Jesus sei auferweckt worden – und er solle Jesus weiter folgen. Das ist zuviel für ihn. Das ist mehr, als er wollte, mehr als er versprochen hat, und erst recht mehr, als er sich vorstellen kann: über den Tod hinaus, weiter als bis zum Äussersten? Erst als er Jesus leibhaftig sieht, kann er diesen Schritt tun: Jesus nicht nur bis zum Tod folgen, sondern darüber hinaus bis zum Leben. Das ist der Auftrag für Thomas, und für andere potentielle Märtyrer.
Lesart für laue Christinnen und Christen
Es gibt aber auch eine Lesart für laue Christinnen und Christen wie mich, die nicht zum Martyrium taugen: Vielleicht glauben wir manchmal, Jesus würde uns auffordern, bis in den Tod mitzugehen – und das wäre zu viel für mich.
Aber auch da erweist sich Jesus als der Christus, der Umwerter aller Werte, der sagt: Geh mit mir bis zum Leben! Dahin, wo Türen unnötig verschlossen sind und man den Menschen sagen muss, dass sie Frieden haben dürfen.
Eigentlich könnte auch Thomas das schon wissen, denn in den Abschiedsreden Jesu im 14. Kapitel fragt er: «Herr, wir wissen nicht einmal, wohin du gehst! Wie sollen wir dann den Weg dorthin kennen?» - und Jesus antwortet: «Ich bin der Weg, denn ich bin die Wahrheit und das Leben» (Joh 14,5).
Was wir von Thomas lernen können
Was wir von Thomas sonst lernen können? In der Kirche gilt «Du sollst nicht zweifeln» ja als eine Art elftes Gebot. Die Geschichte von Thomas beweist das Gegenteil: Gerade jemandem, der sich entschieden auf Jesus eingelassen hat, der aber zweifelt, kritisch hinterfragt, alles ganz genau analysieren will, gerade dem offenbart sich Jesus als der unerwartet Lebendige.
Das gilt dann auch für uns und die Kirche:
Jesus will nicht, dass wir an der Kirche verzweifeln (auch wenn uns manchmal danach ist). Er will, dass wir eine tote Kirche anzweifeln, die die Wunden Jesu verherrlicht, aber seine Praxis einer gleichen gesellschaftlichen Teilhabe für alle – unabhängig von Geschlecht, Stand und Vermögen – verleugnet.
Mit Jesus sollen wir den einen entscheidenden Schritt weiter gehen, im Zweifel über alle konventionellen Werte hinaus!
Ich wünsche Ihnen einen segensreichen Sonntag.
Die KirchenVolksBewegung setzt sich seit 1995 für folgende Anliegen ein:
- Aufbau einer geschwisterlichen Kirche
- Volle Gleichberechtigung der Frauen
- Freie Wahl zwischen zölibatärer und nichtzölibatärer Lebensform
- Positive Bewertung der Sexualität als wichtiger Teil des von Gott geschaffenen und bejahten Menschen
- Frohbotschaft statt Drohbotschaft
- Ökumene
Verschiedenste Autorinnen und Autoren bieten mit dem «Sonntagsbrief» wöchentlich einen Impuls zum Evangelium des Sonntags.
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