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Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt Das Einsiedler Welttheater ist (k)ein Kinderspiel

Das Einsiedler Welttheater feiert diesen Sommer sein 100-Jahr-Jubiläum. Lukas Bärfuss hat den Text geschrieben, Livio Andreina inszeniert das Stück, und das ganze Dorf spielt mit.
20. Juni 2024 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Probenbesuch, erste Szene: Gleich zeigt sich, dass dieses Spiel auf Messers Schneide steht. Ein älterer Mann mit seinem hölzernen Gehstock poltert aufgebracht die Treppe herunter. «No show today! C’est annulé! Cancellato!», ruft die Figur genervt ins imaginäre Publikum. Es ist der Autor, eine göttliche Schöpferfigur. Verständlich, dass dieser Autor aufgebracht ist. Gemäss der barocken Vorlage von Don Pedro Calderón de la Barca, an der sich auch Lukas Bärfuss in seiner Fassung orientiert, will der Autor das Spiel allein zu seinem Vergnügen veranstalten. Nur dazu erschafft er sich eine Welt und lässt die Figuren – den König, den Reichen, die Schönheit, die Weisheit, den Bauern und den Bettler – auftreten. Der Bettler wird dabei zum Prüfstein für die anderen Figuren. Er erinnert sie in seinem Elend an die christliche Nächstenliebe. Doch nicht alle haben Mitleid. Jetzt, in der Stunde ihres Todes werden die Figuren vom Schöpfer gerichtet. Wer die christliche Nächstenliebe gelebt hat, bekommt ein ewiges Leben im Paradies. Wer versagt hat und keine Reue zeigt, kommt in die Hölle. Wer wollte dem Autor die schlechte Laune verübeln, wenn ihm dieses Spektakel in der aktuellen Inszenierung zu entgehen droht?


«Ich wott, ich wott, ich wott.»

Nun hat die zwölfjährige Luana Thoma ihren Auftritt. Sie spielt neben Valentina Marty das Mädchen Emanuela. Ihr Freund ist Pablo – verkörpert von Samuel Engeler und Flavio Lang. Gemeinsam zotteln die beiden auf die Bühne. Die Kinder haben von der Absage gehört und wollen vom Autor wissen, warum er das Spiel ab-blasen will. Es stellt sich heraus, dass die Hauptrollen keine Lust zum Spielen haben: zu anstrengend, zu ungerecht, zu unmenschlich sei dieses Welttheater. Das allerdings lassen die Kinder nicht gelten. Emanuela und Pablo fordern trotzig ihr Spiel. «Willst du das wirklich?», fragt der Autor Emanuela. Das Mädchen schliesst die Augen, hält inne und sagt laut und deutlich: «Ich wott, ich wott, ich wott.» Der kindliche Zauber ist gesprochen. Der Platz vor dem Kloster wird doch noch zur Weltbühne.

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Foto: Christoph Wider

Die Kinder Emanuela und Pablo machen in der Fassung von Lukas Bärfuss das Spiel erst möglich. Im Gegensatz dazu durfte in der ba-rocken Vorlage das Kind nicht am Spiel mit-machen. Denn es war ein ungeborenes Kind, gestorben im Mutterleib. Gemäss der damaligen Vorstellung war dieses Kind als ungeborenes zwar ohne Sünde, aber mit der Erbschuld belastet. Da es tot auf die Welt kam, konnte es nicht getauft werden. Das Paradies blieb ihm also verschlossen und es kam in die Vorhölle, den Limbus. Diese aus menschlicher Sicht unvorstell-bare Ungerechtigkeit habe Calderón als Beispiel gedient, um eine Art von Gottesglauben zu fördern, die unbedingt und unhinterfragt zu sein hat. Das sagt Detta Kälin, die 2013 für das Mu-seum Fram in Einsiedeln eine Ausstellung zum Welttheater von Calderón kuratiert hat. Die Menschen sollten glauben, auch wenn sie die komplexen theologischen Wahrheiten nicht verstehen konnten.

Seit der ersten Inszenierung des Einsiedler Welttheaters im Jahr 1924 hat sich nicht nur das Verhältnis zur Figur des ungeborenen Kindes verändert. Immer weniger versteht das Publikum die Welt des spanischen Barockdichters – und dennoch wurde bis in die 1990er-Jahre an dieser Textvorlage festgehalten. Warum soll die Welt eine Bühne sein? Was soll das Leben mit einem Spiel zu tun haben?

Die Vorstellung des «Theatrum Mundi» – der Welt als Theater – gibt es seit der römischen Antike. Sie erlebte im Zeitalter des Barocks eine Wiederaufnahme. Damals sei die Vorstellung der «Vanitas» wichtig gewesen, sagt Detta Kälin. Damit seien die Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des Lebens angesichts des ewigen Lebens im Jenseits gemeint. Und dazu passe die Vorstellung, das irdische Leben sei ein kurzer Auftritt auf einer Bühne. Just in dieser Zeit seien die barocken Kirchtürme mit Uhren versehen worden, als wollten sie die Menschen daran erinnern: Nutze die Zeit auf Erden, sie ist nicht von langer Dauer. Die sinnliche Welt hätten die Menschen als trügerisch aufgefasst, sagt Detta Kälin. Auch dazu passe die Vorstellung der Welt als Theater, in der sich hinter Kulissen, Kostümen und Masken etwas anderes, das Eigentliche verberge. Sich nicht blenden lassen, sondern auf das Wesentliche – das ewige Leben – konzentriert bleiben sei die Lebensaufgabe gläubiger Katholikinnen und Katholiken gewesen.

An dieser Probe fehlen noch die Requisiten und Kostüme. Aber Luana ist ganz in der Rolle der Emanuela. «Ich finde es cool, dass ich im Theater verschiedene Menschen sein kann», sagt die Zwölfjährige. Bereits als Kleinkind habe sie Theater gespielt, Menschen mit ihren verschiedenen Dialekten imitiert. Mit der Figur der Emanuela habe sie nicht so viele Gemeinsamkeiten, ausser der Durchsetzungsfähigkeit. Das hat Luana beim Rollenstudium gemerkt. Sie sei nicht so mutig wie Emanuela. Aber immer öfter komme ihr die Figur im Alltag in den Sinn und sie stelle fest, dass sie einfacher auf Menschen zugehen könne als früher.


Der Pflock im Kopf

«Wie Kinder durch das Spiel ihre Identität finden, so gelangen auch die Figuren im calderónschen Spiel zu ihrer Identität», sagt Detta Kälin. Die Figuren könnten sich ihre Rollen nicht aussuchen, aber dennoch seien sie keine Marionetten des Schöpfers. Die Figuren – wie die Menschen – hätten ihren freien Willen. Auch 
damit folge Calderón der katholischen Lehre.

Zweiter Probenbesuch. Bis zur Premiere sind es nur noch 20 Tage. Über den Arkaden thronen jetzt Gerüste, auf denen die Figuren der Hundertjährigen sitzen, die sich am Anfang des Stücks geweigert haben zu spielen. Turmartige Gerüstbauten stehen links und rechts der Treppe. Aus Löchern im Boden ragen Plastikrohre. Ein grosser Schacht wurde mitten auf dem Platz ausgehoben. Heute wird der Beginn des zweiten Akts geprobt. Emanuela ist jetzt eine junge Frau, gespielt von Lilli Borsos. Sie hat sich in der Rolle der jungen Königin versucht und muss diese Rolle nun schon wieder abgeben. Dann übernimmt Rita Noser. Sie spielt Emanuela als reife Frau, die nun verarmt ist.

Soziale Gerechtigkeit habe zu Calderóns Zeiten bedeutet, dass alle Menschen die gleichen Chancen auf das ewige Leben hätten, sagt Detta Kälin. Die Welt schien, wie sie sein musste. Die soziale Ordnung wurde als gottgegeben wahr-genommen. Es ging im calderónschen Theater also darum, die eigene Rolle zu akzeptieren und nach den religiösen Regeln zu spielen.

Nun betreten die Elenden die Bühne. Darunter auch die Figur der Claudette, die, wie schon ihr Vater und Grossvater, einen Pflock im Kopf hat, ohne zu wissen, warum – und ohne je den Versuch unternommen zu haben, ihn zu entfernen. Emanuela wiederum hadert mit ihrem Schicksal und plant die Revolution gegen den Autor, dem sie die Schuld an ihrer Misere und an der Ungerechtigkeit der ganzen Welt gibt. Sie animiert Claudette, endlich den Pflock aus ihrem Kopf zu ziehen. Gesagt, getan. Aus Clau-dettes Pflock wird eine Fackel. Die Welt erscheint in einem neuen Licht und dem Autor geht es an den Kragen.

Es scheint, dass die Hauptrollen am Anfang recht gehabt haben: Das Leben auf der Weltbühne vor dem Kloster ist auch in der Fassung von Lukas Bärfuss kein Kinderspiel. Soziale Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod prägen auch das Leben von Emanuela und Pablo. In der calderónschen Fassung konnten sich die Figuren mit dem ewigen Leben trösten. Doch was blüht den Figuren von Bärfuss? Was werden sie am Ende sagen? Hat sich das Spiel gelohnt, dass sie sich vom Autor ertrotzt haben?

Text: Eva Meienberg