Kirche aktuell

Als Organist in Ewigkeit spielend

Als Organist in Ewigkeit spielend
20. März 2019 Katholische Kirche im Kanton Zürich

Die katholische Pfarrei Hinwil startete heuer mit einem 24-Stunden-Orgelprojekt ganz speziell in die Fastenzeit. Martin Hobi, Organist und Professor für Kirchenmusik, schildert seine Eindrücke und Gedanken während des «Ewigkeitsprojekts».

PRELUDE
Mit einem musikalischen «So langsam als möglich» wurde am 5. und 6. März in der katholischen Kirchgemeinde Hinwil der Übergang in die diesjährige Fastenzeit im Rahmen eines «Ewigkeitsprojektes» begangen. Dabei bildete das Orgelwerk «ORGAN²/ASLSP («As slow as possible») des Komponisten John Cage das eigentliche Herzstück, welches sieben Organistinnen und Organisten je zu zweit während durchgehenden 24 Stunden interpretierten. Tags zuvor führte die Liturgiewissenschaftlerin Birgit Jeggle-Merz in die theologischen und liturgischen «ewigen» Zusammenhänge ein.

Montagabend. Wir sind zum Referat von Birgit Jeggle-Merz bereit. Ob sich an diesem Abend – immerhin einem Fasnachtsmontag(!) – überhaupt zuhörende Personen einfinden würden? Wir zählten 50 interessierte Personen. Ich staunte, freute mich sehr darüber und wusste definitiv, dass «die Zürcher» tatsächlich nicht zu den Fasnächtlerinnen und Fasnächtlern zählen.

Sicherlich würde ich das Projekt auch mit Fotos dokumentieren, meinte der Pressevertreter zu mir. Man reagiere ja schliesslich auf Bilder. Doch – wie lässt sich «Ewigkeit» festhalten?

Bei der Spielvorbereitung meiner Kollegin höre ich ein paar Minuten mit. Trotz der Wahl des leisesten Registers wirkt die Orgel allmählich «lauter werdend». Die Ohren reagieren wachsam und hellhörig werdend auf die Stille.

Ob meine Ohren mein bald beginnendes zwei mal sechs Stunden dauerndes «ewiges» Spiel ertragen würden? Spontan packe ich Ohrenstöpsel ein – dies mit zwiespältigem Gefühl. Einerseits will ich Klang schaffen, diesem zuhören, ihm nachhören und diesen auch aushalten und gehe dann andererseits auf Schonung und Zurückhaltung? – Die Stöpsel kamen zwischenzeitlich tatsächlich zum Einsatz.

Ich ertappe mich beim Gedanken, dass dieses Projekt lediglich als ein verkürzter Abklatsch von Halberstadt wahrgenommen werden könnte, wo das klingende Werk auf eine Spieldauer von 639 Jahren angelegt ist. Doch: Musik wie Texte müssen stets aufs Neue gespielt, gesungen und gelesen werden. Auch «Beethovens Fünfte» geht über ihre Uraufführung hinaus und auch die Weihnachtsbotschaft soll – muss! – jedes Jahr aufs Neue vergegenwärtigend laut vorgelesen und verkündigt werden. Still lesen allein reicht nicht.

Unser Projekt ist möglicherweise gar «besser» als jenes in Halberstadt, stehen wir doch zusätzlich zur zeitlichen «von hier bis dort»-Bewegung auch ewigkeits-kreisend im 24-stündigen Tages- und Nachtgeschehen, so wie wir dies einleitend mit «… wie der Schimmer des Morgens um die Erde geht…» aus KG 689 gesungen haben.

Auch während meinen Nichtspielstunden ist mir stets präsent, an welcher Stelle des Orgelwerks sich meine orgelspielenden Kolleginnen und Kollegen zum jetzigen Zeitpunkt befinden. Zum Beispiel im 6. Teil, im 2. Notensystem beim achten Centimeter. Eine eigene Form der Zeiterfassung, überlege ich mir – ähnlich, wie man das uns geläufige Dezimalsystem auch in ein Binär- oder Fünfer- oder Siebnersystem übersetzen könnte. Dabei gehen meine Gedanken auch zur neuen St. Galler Bahnhofsuhr, deren Anzeige oft kopfschüttelnd oder einfach als «Kunst am Bau» wahrgenommen wird. Immerhin dies.

Und wieder einmal mehr klingt mir während des von der Uhr begleiteten Spiels die bald 100-jährige (und vor acht Jahren verstorbene) Silja Walter nach: «Jemand muss zuhause sein, Herr, wenn du kommst. Jemand muss dich erwarten, […] jemand muss wachen, […]. Und jemand muss singen, Herr, wenn du kommst!» (Aus: Gebet des Klosters am Rand der Stadt)

In einem Zustand zwischen Ernst und Heiterkeit wechseln sich die Spielenden innerhalb ihres Spiel-Duos ab. Mit Bananen und Traubenzucker ausgerüstet trifft um halb zwei Uhr des neuen Tages die Nachtschicht ein. Spielend begleiten sie die Ewigkeit während der kommenden sechs Stunden. «… denn unermüdlich […] ist immer ein Gebet und immer ein Loblied wach, das vor dir steht.» (KG 689)

in Halberstadt stand die erste Orgel der Welt mit jener zwölftönigen «Klaviertasten»-Anordnung, wie wir diese bis heute kennen. Natürlich ging ein jahrelanges Pröbeln voraus – doch der Wechsel von Unter- und Obertasten mit den sich daraus ergebenden Spielmöglichkeiten prägte in dieser nun definierten Festlegung unsere Musikgeschichte wesentlich mit. Nichts ist selbstverständlich, vieles hat sich über Jahrhunderte entwickelt – was oft vergessen geht und worüber ich auch beim langen und steten Niederdrücken der Tasten nachsinne.

«Hallo?, Hallo?» hören wir eine neu eintreffende Person durch den Kirchenraum rufen – es bleiben die einzigen laut gesprochenen Worte in diesen 24 Stunden. Kurze Pausen wurden ins Stück komponiert. Auch diesen wird gelauscht – jedenfalls fast immer.

CODA
Das Projekt in Hinwil findet aufgrund der grossen Resonanz spontan eine Fortsetzung mit einer (gedachten) Vorstellung der Werkaufführung von Aschermittwoch bis hin zur Osternacht. In den während dieser Zeit stattfindenden Eucharistiefeiern wird zur «Gabenbereitung» ein hörendes «Guckloch der Ewigkeit» geöffnet, indem der dem Tageszeitpunkt entsprechende Klang gespielt wird. Der zeitliche Ablauf des Werks begleitet uns in dieser ewigen Gottesklang-Präsenz allenfalls noch bewusster auf dem Weg hin zur Auferstehung Christi, die in der Osternacht wahrhaftig wird.

Martin Hobi ist Professor für Kirchenmusik an der Hochschule Luzern, Dozent für Chorleitung an der Diözesanen Kirchenmusikschule St. Gallen und hat einen Lehrauftrag für Kirchenmusik an der Universität Luzern. Er arbeitet zudem als Redaktor bei der schweizerischen Fachzeitschrift «Musik und Liturgie».
Und nicht zuletzt ist er auch Kirchenmusiker und Organist in Hinwil und Dirigent des Badener Vokalensembles.