Kirche aktuell

Diskussion mit Jacqueline Fehr über Staat und Religion Religionslandschaft im Wandel - was heisst das?

Kirchen verlieren Mitglieder, dafür nehmen Konfessionslose und neue Religionsgemeinschaften zu. Wie soll der Staat darauf reagieren? Religionsministerin Jacqueline Fehr stellte sich den Fragen katholischer Kirchenpflegen und Vertretern anderer Religionsgemeinschaften. Für Fehr ist klar: Es besteht Handlungsbedarf.
08. November 2022 Katholische Kirche im Kanton Zürich

Die Religionslandschaft im Kanton Zürich und in der Schweiz generell ändert sich rasant. Neben den etablierten grossen christlichen Kirchen, die Mitglieder verlieren, sind auch neue Religionen bei uns heimisch geworden. So zählen die verschiedenen Gemeinden der orthodoxen Kirchen im Kanton bereits 50 000 Gläubige und schon mehr als 100 000 Muslime leben unter uns. Was heisst das für das Verhältnis vom Staat zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften? Heute sind neben den beiden grossen Kirchen nur noch die christkatholische Kirche sowie zwei jüdische Gemeinden anerkannt und erhalten somit Gelder vom Kanton für Leistungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Aber was ist mit den anderen?

Neben den Staatsbeiträgen an die anerkannten Religionsgemeinschaften gibt es auch noch die Kirchensteuern von juristischen Personen, also von Firmen. «Warum der muslimische Kebabstand-Betreiber eine Steuer zahlen soll, von der nur die christlichen Kirchen profitieren, seine eigene Religionsgemeinschaft aber nicht, ist in der Bevölkerung heute immer weniger nachvollziehbar», stellte denn auch Regierungsrätin Jacqueline Fehr unmissverständlich fest. Unbestritten ist für sie aber auch die Tatsache, dass Religionen für unsere Gesellschaft wichtig sind, auch wenn der Anteil der Konfessionslosen wächst: «Religion verortet uns in unserer Geschichte und Tradition, Religionen vermitteln Werte und sind deshalb von grosser Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt» betonte die Religionsministerin in der Diskussion. Die Bedeutung von Kirchen und Religionen bemisst sich also nicht einfach nur an Mitgliederzahlen, sondern daran, was die Religionen für die gesamte Gesellschaft an Integrations- und Vermittlungsarbeit leisten.

 

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Jacqueline Fehr, Regierungsrätin der Direktion der Justiz und des Innern, stellt sich den Fragen und der Diskussion über Staat und Religion

 

Die Kirchenpflegerinnen und Kirchenpfleger spielten eine wichtige Rolle als Vermittler einerseits innerhalb der Kirche zwischen Gläubigen aus verschiedensten Kulturen, wie andererseits bei der Einbindung von Menschen unterschiedlicher Religionen in unsere Schweizer Gesellschaft. Somit appellierte Fehr an die lokalen Kirchenverantwortlichen, anlässlich hoher Austrittszahlen nicht zu resignieren. Auch Parteien verlören heute Mitglieder, seien aber trotzdem essentiell wichtig für das Funktionieren der Demokratie. «So, wie die Parteien ihre Bedeutung für das demokratische System behalten, so behalten auch Religionen ihre Bedeutung in der Gesellschaft», ist die Überzeugung der Religionsministerin.

Wie wird der Kuchen geteilt?

Neben viel Anerkennung, Ermutigung und Balsam für geschundene Kirchenseelen hatte die Regierungsrätin aber auch eine klare Botschaft an die katholische Versammlung, wie in der Diskussionsrunde mit Synodalratspräsidentin Franziska Driessen-Reding, dem Präsidenten der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) Abduselam Halilovic und Pfarrerin Bettina Lichtler, Präsidentin Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (AGCK), deutlich wurde. Zwar betonten sowohl der Präsident der Muslime wie die Präsidentin der AGCK, in der auch viele nicht-anerkannte christliche Kirchen vertreten sind, es gehe diesen Religionsgemeinschaften weniger um Geld, als primär um Wertschätzung ihrer Präsenz und ihres Wirkens.

Trotzdem war allen Beteiligten klar, dass die Verteilung der staatlichen Gelder diskutiert werden muss, wenn auch mit unüberhörbaren Nuancen. Für Fehr stellt sich die Sache so dar: «Die Beiträge des Staats an die Religionsgemeinschaften würden in der Bevölkerung und in der Politik an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn die Mittel gerechter verteilt würden.»  Im Klartext: Weniger Geld für die etablierten Kirchen, dafür ein Teil an andere Religionsgemeinschaften, die bis jetzt nur über einzelne Projekte unterstützt werden beziehungsweise durch freiwillige Abgaben der Kirchen. Zum Beispiel zur Ausbildung muslimischer Seelsorgenden oder für die organisatorische Unterstützung des Verbands orthodoxer Kirchen im Kanton. Wie das gesetzlich geregelt werden könnte, ist allerdings noch völlig offen. Die Hürden für eine öffentliche Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften - dazu müsste die Mehrheit des Stimmvolks Ja sagen - sind fast unerreichbar hoch. Also müssen im Rahmen eines nötigen Zukunftsdialogs andere Wege gefunden werden.

Synodalratspräsidentin Driessen-Reding zeigte sich gesprächsbereit, allerdings mit Bedingung: «Ich bin bereit, ein echtes Stück vom Kuchen abzugeben. Aber nur, wenn der Kuchen grösser wird.» Ob dieser Wunsch in Erfüllung gehen könnte, wird die Zukunft zeigen müssen. Fehr reagierte eher verhalten: «Es würde den etablierten Kirchen gut anstehen, wenn sie nicht-anerkannte Religionsgemeinschaften am heutigen Kuchen teilhaben lassen würden.»

 

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Angeregte Diskussion über die Rolle der Kirchen (v. l. n. r. Franziska Driessen-Reding, Barbara Lichtler, Simon Spengler).

 

Zukunftsdialog geht weiter

Die Diskussionsrunde unter der Moderation von Simon Spengler, Bereichsleiter Kommunikation der katholischen Kirche im Kanton Zürich, war sich aber über zwei Punkte einig: Erstens besteht Veränderungsbedarf, zweitens bedarf es für die nötigen Veränderungen viel Geduld, Gespräche und vertiefte Auseinandersetzungen. Was also könnte ein nächster Schritt sein? Hierzu brachten Halilovic und Lichtler als Anwälte der nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften einen konkreten Vorschlag: Ähnlich zur turnusgemässen Erfassung der gesamtgesellschaftlichen Leistungen der anerkannten Religionsgemeinschaften könnte der Kanton eine Studie erstellen, welche Leistungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung die nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften schon heute erbringen, vor allem im Hinblick auf Integration. 

Das wäre tatsächlich Neuland - und vielleicht eine gute Basis für ein künftiges, gerechteres Miteinander der Religionen im Kanton Zürich - zugunsten der ganzen Gesellschaft.

 

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Abduselam Halilovic (rechts im Bild) schätzt den Dialog auf Augenhöhe zusammen mit Simon Spengler und Jacqueline Fehr.

 

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