Dekan Hugo Gehring geht in Pension. Das Interview. «Eine Welt ohne Gott ist triste.»
Herr Gehring, Sie waren einer der grossen, in der Öffentlichkeit bekannten Pfarrer im Kanton Zürich. Jetzt beenden Sie mit 70 Jahren Ihre berufliche Tätigkeit. Wenn Sie zurückblicken: Hätten Sie etwas anders gemacht?
Hugo Gehring: Mit meinem Werdegang bin ich 100 Prozent zufrieden. Bei den Personalentscheidungen ist vielleicht nicht immer alles optimal gelaufen, aber mehrheitlich war es positiv. Vielleicht hätte ich noch deutlicher innerkirchlich Opposition machen und Position markieren sollen. Ich war jahrelang im Priesterrat und habe zu Zeiten von Bischof Haas so viel Widerstand signalisiert wie möglich. Bei Bischof Huonder war ich vielleicht eine Spur zu freundlich, da hätte ich klarer auftreten können.
Wieso hätten Sie mehr Widerstand leisten sollen?
Bei Bischof Haas haben wir uns gewehrt und das hat letztlich genützt. Er ist abgesetzt worden. Aber Bischof Huonder ist mindestens so schlimm, wenn nicht schlimmer gewesen als Bischof Haas. Man hätte noch lauter gegen bestimmte Arten von Kirchenbildern protestieren müssen; dass eine Kirche nicht nur dann Kirche ist, wenn sie mit dem Bischof in Harmonie steht; dagegen, dass ein Bischof das Recht hat, Leute zu weihen, bei denen alle, wirklich alle, abraten. Aber er zog es einfach durch, weil er das Gefühl hatte, er habe eine göttliche Erleuchtung.
Natürlich habe ich davon gelebt, dass ich möglichst viel positive Kirchenerfahrungen vermitteln und selber erleben konnte in der Kleinkirchenumgebung, in der ich bin. Man kann sich nicht ständig in Opposition bewegen. Das reibt einen auf.
Eine positive Einstellung: Ist es das, was Sie in der Kirche gehalten hat?
Es hat mich einmal jemand angefragt, was mich noch in der katholischen Kirche halte, warum er nicht austreten solle. Ich hab ihm eine Karte der Kirche geschickt mit der Antwort: das Evangelium. Ich glaube einfach, dass die Welt Schöpfung ist, dass der Schöpfer uns, jeden einzelnen Menschen, gerne hat, dass es uns guttut und dass wir die Botschaft brauchen. Die Welt wäre ärmer, wenn es diese Botschaft nicht gäbe. Grundsätzlich eben das, was der Papst in der Enzyklika mit «Freude am Evangelium» oder «Freude des Evangeliums» ausgedrückt hat. Das ist auch meine Grundhaltung. Ich finde die Welt des Glaubens etwas Erfreuliches, etwas das Menschen zum Leben hilft. Die Freude lass ich mir nicht einfach nehmen.
Was bedeutet für Sie Glauben?
Es ist eine Option, eine Einstellung gegenüber der Wirklichkeit. Das stärkste Wort dazu ist: Vertrauen können. Wir können gar nicht ohne leben. Ob das Vertrauen einen Grund hat oder einfach mehrheitlich funktioniert oder ab und zu auch nicht funktioniert, das wissen wir alle nicht so genau.
Warum haben Sie diese Option gewählt?
Ich habe mich nicht von einer Sekunde auf die andere entschieden, ich habe kein Bekehrungserlebnis gehabt. Es war ein Entscheid, der langsam kam und der sich im Laufe der Zeit verstärkt hat. Ich wollte der Seite des Vertrauens mehr Raum geben und mich darauf einlassen und nicht der Seite des Zufälligen oder der Angst. Ob ich in einem Menschen einen hochorganisierten Zellhaufen sehe oder das Ebenbild Gottes: Es ist immer derselbe Mensch.
Selbstverständlich stimmt die Beschreibung hochorganisierter Zellhaufen. Die Frage ist, ob nur. Ich finde, es gibt einen Gewinn an Wirklichkeit, wenn man das, was existiert, als Schöpfung sieht und uns als Geschöpf. Es ist nicht ein Verlust, es ist ein Gewinn. Eine Welt ohne Gott ist triste.
Wo liegen aktuell die Probleme in der katholischen Kirche?
Zum einen gibt einen Reformstau. Ein Aspekt ist sicher die Stellung der Frauen in der Kirche. Da ist gesellschaftlich etwas in Bewegung gekommen. Ist sie gleichberechtigt in den Macht- und Entscheidungsstrukturen? Ist sie gleichberechtigt in den Kompetenzen? Was kann sie erreichen innerhalb der kirchlichen Ordnung? Das werden wir in unserer Weltkirche nicht von einem Tag auf den anderen ändern können. Es darf aber nicht nichts passieren!
Was sind andere Aspekte?
Von mir aus gesehen die Frage der Sexualmoral der katholischen Kirche. Die ist weder vom Glauben noch von der Bibel her zu begründen wie sie beispielsweise im katholischen Kathechismus von 1993 dargelegt ist, sondern sie ist ein Ärgernis, hat über Jahrhunderte zu Ärgernis geführt und hat den Menschen geschadet und darf nicht einfach so stehen bleiben. Die Form von Sexualmoral hat dazu geführt, dass diejenigen, die mit der Kirche noch am engsten verbunden sind, nämlich ihre Amtsträger, in dieser Beziehung am kränksten und gestörtesten sind. Das ist nicht erstaunlich. Das ist ein Symptom. Das hat spätestens 2010 zur Einsicht geführt, dass das die Amtsträger richtig krank macht.
Was war 2010?
2010 sind die grossen Missbrauchsskandale aufgeflogen. Die sind natürlich latent schon vorhanden gewesen. Mit dem ganzen Komplex hängt auch der verpflichtende Zölibat für das Amtspriestertum zusammen. Etwas anderes ist, dass es seit fast zu Beginn des Christentums Klöster gibt, in denen Männer oder Frauen ehelos in Gemeinschaft leben. Das ist ein anderer Lebensentwurf, der aber auch nicht unproblematisch ist. Es wäre aber noch problematischer, wenn es diesen anderen Lebensentwurf gar nicht geben würde. Es muss noch etwas anderes geben, als dass Menschen nur da sind, um sich fortzupflanzen. Menschen sind nicht so klar definierbar. Dass es andere Lebensentwürfe gibt, soll die Kirche sogar schützen. Insofern müsste sie sogar ein Anwalt der Diversität sein.
Was würden Sie sonst noch verändern, wenn sie könnten?
Der dritte Reformstau ist sicher die Frage der Entscheidungsfindung in der katholischen Kirche. Die ist enorm hierarchisiert und müsste nicht so sein und bleiben. Was der Papst unter dem Stichwort «Synodalität» ins Rollen gebracht hat, erzeugt hoffentlich ein anderes Klima.
Was hat sie in ihrem Leben am meisten bewegt?
Menschen. Ich habe die schöne Aufgabe, Leben zu würdigen an den verschiedensten Kristallisationspunkten und kann die Würde des Lebens herausstellen. Geburt, Taufe, Hochzeit, die Liebe, Erstkommunikon, Trauerfeiern, Abschied von einem Menschen. Das ist für mich die Mitte der Botschaft. Mich hat einmal eine sterbende Frau gefragt: «Was glaubst du eigentlich wirklich? Sag mir jetzt keine kirchliche Formel.» Dann habe ich gesagt, ich glaube an den absoluten Wert des einzelnen Menschen. Die Kernaufgabe ist es, Menschen in Berührung zu bringen mit Gott, der Liebe ist.
Was mich weiter speziell berührt hat ist, dass ich Begleiter von Biografien geworden bin. Und zwar dadurch, dass ich ganz wenige Stellen gehabt habe. Ich bin 16 Jahre in Bülach gewesen und jetzt 22 Jahre in Winterthur, insgesamt 7 Jahre in München. Das heisst, ich habe beispielsweise ein Kind im Blauringlager kennengelernt und kenne sie bis heute noch. Jetzt ist sie über 50, Familienmutter. Ich hab die Kinder getauft, ich habe sie in die Ehe begleitet. Es ist schön, dass es auch Leute gibt, bei denen man biografischer Weggefährte wird. Und die auch mir gegenüber Weggefährte sind.
Hat es denn auch etwas gegeben, wo sie selber an ihre Grenzen gekommen sind?
Ja mehrfach. Mit 30 hatte ich etwa zwei Monate Depressionen. Damals stand ich vor der Frage: «Ist das jetzt alles?» Zum Glück habe ich das durchgestanden. Ich erlebte aber auch immer wieder Glaubenskrisen, in denen ich das Gefühl hatte, die Wahrscheinlichkeit, dass es Gott nicht gibt, ist grösser als die Wahrscheinlichkeit, dass es Gott gibt. Dass ist schwierig, wenn man beruflich von Gott reden muss, und das nur noch als Wunschhypothese aufrechterhält, nicht mehr als tragende Realität. Der Vorteil dieser Phasen war, dass ich umso sensibler wurde für die Glaubensschwierigkeiten der anderen.
Was hat Ihnen persönlich in einer Glaubenskrise geholfen?
Es war zuerst banal: einfach durchhalten, weitergehen, nicht alles aufgeben, nicht alle Lebensentscheidungen sofort über den Haufen werfen. Und neue Erfahrungen machen. Als mir – ich bin seit rund drei Jahren krebskrank – meine Onkologin gesagt hat: «Ihnen hat der Glauben geholfen», da hab ich ehrlich sagen müssen: «Nein, stimmt nicht.» Also, bewusst hat mir der Glaube in der Krankheit nicht geholfen. Aber ich habe eine gewisse Schicksalsergebenheit entwickelt. Es kommt so, wie es kommt. Ich habe gedacht, wir haben halt einfach ein Ablaufdatum. Und ob das ein wenig früher oder später ist, daran kann man nichts machen.
Hat Ihnen etwas im Leben gefehlt?
Die Onkologin hat hinzugefügt, und das hat mich sehr gefreut. «Aber ich habe den Eindruck, Sie haben ein gutes Leben gehabt. Sie bereuen nichts, sie haben nicht das Gefühl, sie müssten etwas nachholen.» Das stimmt. Ich bin noch nie in Lissabon gewesen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass mein Leben deswegen verpfuscht ist. Ich habe nicht gedacht, jetzt nach der Pensionierung, beginne ich erst richtig zu leben. Das stimmt alles nicht. Es gibt ein Leben vor der Pensionierung und das habe ich gelebt.
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