Kirche aktuell

Texte und Musik zur Lage im Nahen Osten Zuhören. Schweigen. Not wenden

Hanspeter Ernst

Hanspeter Ernst ist katholischer Theologe, Judaist und ehemaliger Leiter des Zürcher Lehrhauses sowie Präsident der Regionalgruppe Zürich der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft Schweiz.

Hanspeter Ernst
Seit dem Hamas-Anschlag vom 7.10.2023 und dem darauf folgenden Krieg in Gaza und Libanon ist ein konstruktiver Dialog über die Situation im Nahen Osten fast unmöglich geworden. Für den Präsidenten der Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft CJA, Hanspeter Ernst, bleibt zumindest das Zuhören: auf jüdische und palästinensische Texte und Musik. Am 25. November im Grossmünster.
21. November 2024

Das Verhältnis zwischen Juden, Israelis und Palästinensern ist nicht erst seit der Staatsgründung Israels ein problematisches. Und das war es auch schon vor der Schoa. Niemand bestreitet, dass die Situation komplex ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es verschiedenste Meinungen zu diesem Konflikt gibt. Eher erstaunlich ist, mit welcher Vehemenz die verschiedenen Meinungen ausgetragen und welche Mittel eingesetzt werden, um bestimmte Meinungen zu favorisieren und andere zu diskreditieren, und welche konkrete Folgen dies für das Zusammenleben hat. Mir ist kein anderer Konflikt bekannt, wo mit derart harten Bandagen gekämpft wird und der dermassen polarisiert ist. Mit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober, der durch nichts zu rechtfertigen ist, hat diese Polarisation neuen Schub und zusätzliche Emotionalisierung erhalten. In einer solcherart aufgeheizten Situation ist eine sachliche Auseinandersetzung nicht möglich. Dementsprechend wird auch jede Suche nach Kompromissen (beinahe schon) als Verrat empfunden.

Ohnmacht

Es ist zum Verzweifeln. Ein jüdischer Bekannter sagte mir: Was immer wir Juden tun, wie wir uns verhalten, uns wehren – es ist einfach alles falsch. Die Juden sind an allem schuld. Von anderer Seite höre ich: Wie immer man sich äussert, wie immer man Stellung nimmt, es ist falsch: man hat zu wenig Kenntnis, man ist zu einseitig, spielt Opfer gegen Opfer aus, ist Partei für die Hamas, negiert das Existenzrecht Israels, weiss nicht, wie desaströs sich all die Terroranschläge auswirken, ist Antisemit; oder aber man sieht nicht die jahrzehntelange Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser, die Gewalt der Siedler, weiss nicht, was ein Freiheitskampf ist usw. usf. Das Schlimmste daran ist dieses lähmende Gefühl der Ohnmacht, ausgeliefert und benutzt zu sein. Das ist die Frucht der Polarisation. Es ist zum Verzweifeln.

Blockdenken

Soll ich also schweigen, mich neutral verhalten? Nein, weil sich dann nichts, aber auch gar nichts ändert. Um der eigenen Menschlichkeit willen bin ich verpflichtet, gegen Menschenverachtung zu kämpfen, unmenschliche Taten zu benennen, dem Hass entgegenzutreten, nach neuen Wegen zu suchen. Doch wie soll dies geschehen, wenn sich Blöcke gegenüberstehen, wenn die Suche nach Wahrheit an den Mauern dieser Blöcke scheitert und das gegenseitige Verstehen nur konfrontativ sein darf? Wie lässt sich miteinander reden, wenn niemand zuhört, wenn jedes Argument, bevor es geäussert wird, schon falsch ist, weil es nach dem eigenen Standpunkt nicht wahr sein darf, wenn Vorurteile mich blind und taub machen? Wieso nur Entweder – oder?

Hoffnungslosigkeit

So unerträglich eine Situation auch sein mag, sie wird nicht einfacher dadurch, dass ich mich in meinem eigenen Frust abkapsele. Die Vereinzelung führt nur zu mehr Hoffnungslosigkeit. Auch wenn die verschiedenen Ansichten bezüglich des Konfliktes nicht gegensätzlicher, auch wenn die verschiedenen Arten der Betroffenheit nicht unterschiedlicher sein können – letztlich wollen alle ein «normales Leben», will heissen: ein selbstbestimmtes, menschliches Leben. Aber dieses Wollen wird zu gern als «Wollen für die eigene Gruppe» verstanden, was dann selbstredend zum Kampf gegen all jene führt, die dieses Wollen verhindern. Ein solcher Kampf ist legitim, verdreht sich aber in sein Gegenteil, wenn es ein «Wollen nur für die eigene Gruppe» wird, wenn im Namen des eigenen Existenzrechts jenes der anderen abgesprochen wird, die eigene Sicherheit zur Bedrohung der Sicherheit der anderen verkommt.

Hören

Was aber lässt sich gegen Hoffnungslosigkeit und  Verzweiflung tun? Wie die durch Polarisation verursachte Vereinzelung überwinden? Ich denke, dass die dazu wichtigste Voraussetzung das Hören ist, eine Fähigkeit, die uns abhanden gekommen ist. Wir sind uns nicht mehr gewohnt, jemandem zuzuhören, ohne ihr oder ihm gleich ins Wort zu fallen. Dies vor allem dann, wenn die vorgetragene Meinung oder ihre oder seine Betroffenheit nicht der unseren entspricht. Wenn wir zuhören, aufeinander hören,

  • könnten wir die uns alle miteinander verbindende Menschlichkeit entdecken, die all unseren Wertungen, Vorurteilen und Urteilen vorausgeht. Tönt banal, ist jedoch nicht einfach. Für Menschlichkeit sind wir ja alle. Dumm ist nur, dass es nicht die Menschlichkeit an sich gibt. Es ist immer der konkrete Mensch neben mir, der mir sympathisch oder nicht sympathisch ist, mit all seinen Eigen- oder Uneigenschaften, den ich liebe oder hasse. Auch die Menschlichkeit des Feindes, die durch dessen Dehumanisierung und Dämonisierung verschüttet ist und nur den blanken Hass kennt;
  • könnten wir den Schmerz aushalten im Wissen darum, dass es Heilung nur geben kann, wenn ich auch den Schmerz der Anderen und des Andern zur Kenntnis nehme;
  • könnten uns die zu Texten verdichteten Erfahrungen Früherer und Heutiger Anlass zu neuer Hoffnung geben und neue Wege weisen und helfen, die Verlogenheit der eigenen Sprache aufzudecken;
  • könnte uns Musik, die Sprach- und Landesgrenzen überschreitet und Menschen auch generationenüberschreitend miteinander verbindet, innerlich und äusserlich so bewegen, dass emotionale Hindernisse und Denkbarrieren fallen.

Es ist die schmerzliche Erfahrung, dass in einem entscheidenden Moment wie dem jetztigen ein Dialog praktisch nicht mehr möglich ist. Die Fronten haben die Beziehungen vergiftet. Dabei wollten wir es von der Christlich jüdischen Arbeitsgemeinschaft im Kanton Zürich aber nicht belassen. Deshalb haben wir eine Veranstaltung geplant, in deren Zentrum das Zuhören steht. Helmut Vogel wird Texte vorlesen von Etty Hillesum, Jehuda Amichai, Mahmud Darwisch, Mascha Kaleko und Delphine Horvilleur. Eine andere, nicht sprachliche Dimension findet ihren Ausdruck in der Musik , gespielt von Philipp Mestrinel, Daniel Schneider und Christoph Elsässer. Text und Musik zusammen bieten einen Ort für das gemeinsame Hören, das mich sanft zum Schweigen zwingt. Genau das, was Not wendend ist.

Der von der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft im Kanton Zürich organisierte Anlass «Zuhören» wird auch vom Interreligiösen Runden Tisch im Kanton Zürich mitgetragen. Montag, 25. November, 19 Uhr im Grossmünster.