Zum 150. Geburtstag von Leonhard Ragaz
Prof. Christian Cebulj, Rektor der Theologischen Hochschule Chur, würdigt den religiösen Sozialisten und Theologen, der vor allem in Zürich wirkte.
Er war einer der grössten Schweizer Theologen und wollte eigentlich aus der Eidgenossenschaft ein Reich Gottes machen: Am 28. Juli wäre der 1868 in einer Kleinbauernfamilie in Tamins geborene Leonhard Ragaz 150 Jahre alt geworden. Der Bündner reformierte Theologe, der in Basel, Jena und Berlin studiert hat, wurde 1890 zunächst Pfarrer in Flerden am Heinzenberg, bevor er 1895 zum Stadtpfarrer von Chur gewählt wurde. In seiner Autobiografie schreibt er, wie sehr ihn seine Herkunft geprägt hat und wie stark er in der Bündner Alpenkultur verwurzelt war. Dazu gehörte nicht nur der Jahreslauf der Natur, der das Leben prägte, und der Flimserstein, der über Tamins thronte, sondern ebenso die gleichzeitig gemeinschaftliche wie demokratische Dorfkultur. Er fühlte sich als freier Bürger eines freien Volkes.
Nachdem er 1902 Basler Münsterpfarrer geworden war, berief ihn 1908 die Theologische Fakultät der Universität Zürich zum Professor. Dort entwickelte er sein Programm eines religiösen Sozialismus, trat kurze Zeit später der SP bei und stand 1918 während des Schweizer Generalstreiks auf der Seite der Arbeiter.
Die NZZ kritisiert ihn in der Folge als «Generalstreiktheologen», worauf Ragaz nicht ohne Polemik antwortet: «Diese Zeitung […] ist auch ein Symbol jener alten Schweiz, die wert ist, dass sie zugrunde geht.» Wie wahr ist dieser Ausspruch heute wieder, wenn man sieht, wie die NZZ , die einst als liberale Zeitung gegründet wurde, sich in eine konservative Richtung entwickelt.
«Die neue Schweiz – ein Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen» nannte Ragaz ein Buch, das 1918 erschien und für einigen Wirbel sorgte. Es war ein politisches Werk, aber der Theologe Ragaz entwickelte darin eine «Vision von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung». Ganz wie wir sie bis heute brauchen.
Solidarität wird bei ihm zum Grundpfeiler der Schweizer Geschichte. Dafür spannt Ragaz sogar einen Bogen vom alten Israel zur alten Eidgenossenschaft. Die Schweiz wird bei ihm zu einer Art god’s own country.
Ragaz war weniger Pragmatiker als vielmehr Visionär. An der Universität scheitert er zwar mit seinen Visionen eines religiösen Sozialismus. Wie ernst ihm aber selber damit war, zeigt er 1921, als er freiwillig seinen Rücktritt als Lehrstuhlinhaber einreicht. Er verlässt den Zürichberg und zieht mit seiner Familie in ein religiös-soziales Settlement im Arbeiterquartier Aussersihl. Er tauscht den Katheder mit einem einfachen Büro. Er erklärt nicht mehr angehenden Pfarrern das Evangelium, sondern bildet die Arbeiterschaft.
In seiner Biografie bewegen mich vor allem zwei Aspekte. Zum einen gibt es grosse Schnittmengen zwischen Ragaz und der katholischen Soziallehre. Papst Leo XIII. mahnte in «Rerum Novarum» (1891) in ähnlich prophetischer Weise wie Ragaz die Prinzipien von Subsidiarität und Solidarität als Pfeiler einer gerechten Gesellschaft an, die bis heute gelten. Zweitens liegt der deutsche Altkanzler Schmidt falsch, wenn er einmal sagte: «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt!». Es ist genau umgekehrt: Wir brauchen gerade heute Visionäre, um Veränderungen in Gesellschaft, Theologie und Kirche zu erreichen. Eben Menschen wie den Taminser Leonhard Ragaz.
Der Artikel erschien zuerst als Gastkommentar im Bündner Tagblatt vom 8. August
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