Wenn Frauen ihr Schweigen brechen
#Female Pleasure ist ein Schweizer Dokumentarfilm, in dem fünf Frauen aus fünf Kulturen ihre Geschichte erzählen. Ein Film, der Lust macht, zu sich selbst zu stehen – und mutig zu sprechen. Die Theologin Veronika Jehle hat ihn bereits gesehen.
„Dann beschloss ich, das Schweigen zu brechen.“ Dieser Satz schlug bei mir ein. Während ich schweigend in einem bequemen Kinofauteuil sass, erlebte ich, welche Macht es hat, wenn Menschen zu sprechen beginnen. Fünf Frauen sind es, die in #Female Pleasure ihre Geschichte erzählen. Mit dem Satz „Dann beschloss ich, das Schweigen zu brechen“ fasst eine von ihnen zusammen, was in diesem Film geschieht: das Schweigen zu brechen ist schon Veränderung. Reden ist Macht. Reden bedeutet, sich selbst die Macht zurück zu erobern. Jede und jeder kann wieder zu reden beginnen. Frauen eine Plattform zu geben, die darin Pionierinnen sind – das ist für mich der Verdienst dieses Films der Schweizer Regisseurin, Juristin und Sozialarbeiterin Barbara Miller.
Fünf Frauen brechen ihr Schweigen: Leyla Hussein wurde als Kind beschnitten und an ihren Genitalien verstümmelt. Deborah Feldman wurde in einem orthodox jüdischen Umfeld zwangsverheiratet. Vithika Yadav wollte als Inderin den Mann heiraten, den sie liebte. Doris Wagner wurde in der katholischen Ordensgemeinschaft „Das Werk“ sexuell und psychisch missbraucht. Rokudenashiko traut sich in Japan, ihre Vagina in Kunstwerken darzustellen.
Diesen Geschichten ist so manches gemeinsam, zum Beispiel: Unterdrückung funktioniert über die Manipulation der Sexualität. Frauen werden unterdrückt heisst, sie werden in ihrem Frausein, heisst sie werden in ihrer Sexualität unterdrückt. „Es ist nicht ein Problem in afrikanischen und asiatischen Kulturen, es ist ein weltweites Problem“, sagt Leyla Hussein und meint die Genitalverstümmelung. Es gilt gleichermassen für den Zusammenhang von Unterdrückung und Sexualität, genauer: für den Zusammenhang von Unterdrückung – Sexualität – Schweigen.
Klar wird aus den Erzählungen des Films: Machtstrukturen haben ein Interesse daran, Sexualität, vor allem weibliche, zu tabuisieren. Die Jüdin, die sich nach jeder Menstruation als Unreine waschen muss. Die Nonne, die keine Weiblichkeit ausstrahlen darf. Die Inderin, deren Anziehung zu einem bestimmten Mann nichts zählt. Die Japanerin, die ihre Vagina nicht darstellen darf, während in Japan Volksfeste gefeiert werden, bei denen grosse Penisse durch die Strassen getragen werden. Frauen, die sich emanzipieren, bemerken zuerst, dass sie zu sich stehen dürfen, zu ihrem Körper, zu ihrer Vagina, lernen sich selbst kennen, stehen zu ihrer Freude an Sex und Orgasmen. Männer, die sich emanzipieren, müssen sich nicht mehr über eine fadenscheinige Dominanz definieren.
Die Machtstrukturen, die im Grunde beide Geschlechter gefangen halten, funktionieren so lange, wie alle Beteiligten, Opfer wie Täter, dazu schweigen.
„Dann beschloss ich, das Schweigen zu brechen.“ #Female Pleasure zeigt, dass das Schweigen zu brechen der erste Schritt zu einer Veränderung ist, für die Frauen individuell wie für das gesellschaftlich-kulturell-religiöse Umfeld, aus dem sie kommen. Die Inderin Vithika Yadav heiratet ihre Liebe, gründet aber gleichzeitig die Bewegung Love Matters und ermutigt Frauen und Männer bei öffentlichen Happenings auf den Strassen Indiens, zu ihren Gefühlen zu stehen. Leyla Hussein kämpft dafür, dass ihre eigene Tochter nicht beschnitten wird und macht gleichzeitig Aufklärungsarbeit gegen Genitalverstümmelung in Dörfern in Kenia. Rokudenashiko, die für ihre Vagina-Kunst vor Gericht kommt, erhält Unterstützung von freiwilligen Verteidigern und wird freigesprochen.
Der Film zeigt, wie sie Feste feiern und wie man sich über Erfolge zunehmender Selbstbestimmung freut. Mich als Zuschauerin mit ihnen mitfreuen zu können, tat mir, die ich schweigend in meinem Kinofauteuil sass, ehrlich gut. Es war wie ein kurzes Atemholen im Irrsinn, den das Schweigen ursprünglich einmal zementiert hatte. Auffallend: Mit Doris Wagner, der ehemaligen Nonne, konnte ich mich nicht mitfreuen. Da ist ihr privater Erfolg, dass sie nun glücklich in einer Beziehung lebt und eine Familie gegründet hat. Der Vatikan aber, Papst Franziskus, die Ordensoberin, der Täter, sie bleiben stumm.
„Du siehst es, und schweigst. Du hörst es, und schweigst. Du weisst es, und schweigst.“ – der Film schreit mir diese drei Sätze ins Gesicht.
Genauer gesagt schreien Frauen und Männer, die bei einem dieser Happenings in Indien den Passantinnen und Passanten eine Szene vorspielen. In der Szene vergewaltigen Männer eine Frau. Sie sind es, die nun auch mir diese Sätze entgegenschreien. Wieder schlägt es bei mir ein – weil ich weiss, dass sie recht haben. Ja, wir schweigen. Ja, ich schweige.
Was würde passieren, wenn katholische Frauen, Theologinnen, einige, viele, alle, zu sprechen beginnen würden?
Was würde ich sagen, wenn ich zu sprechen beginnen würde? Was könnten Priester erzählen, wenn sie offen über sich selbst und ihre Erfahrungen sprechen würden? Und was könnten auch sie zur Unterdrückung ihrer eigenen, gerade auch sexuellen Sehnsüchte sagen?
#Female Pleasure zeigt eine Kultur der Aussprache, die die gegenwärtige Kultur des heimlichen Gemäuschels entlarvt; die den Anstand untergräbt, vor Autoritäten und Traditionen zu schweigen; sich gegenseitig zu decken; Strukturen zu bewahren, die Ordnung auf Kosten von Freiheit erzwingen. Natürlich schlägt das ein, weil es enorme Sprengkraft hat. Nicht nur für Kirchen und Religionsgemeinschaften, auch in der Gesellschaft, nicht nur für Frauen, auch für Männer. Nicht immer nur geht es um das Recht der Frau, erkämpft gegen das Patriachat des Mannes. Im Ganzen geht es doch um Demokratisierung von Freiheitsrechten, die Menschen haben können und haben müssen.
„Dann beschloss ich, das Schweigen zu brechen.“ Ist es tatsächlich so einfach: Müssten wir einfach zu sprechen beginnen? Müssten wir einfach einander erzählen, offen und wahrhaftig? So ist es.
Einzig: Zu sprechen zu beginnen, das ist es, was wiederum nicht einfach ist. In #Female Pleasure werden Frauen gezeigt, die es gewagt haben, auf verschiedenen Wegen: Rokudenashiko zeichnet Mangas, eine Art japanischer Comics. Doris Wagner und Deborah Feldman haben je ein Buch geschrieben. Vithika Yadav hat ihre eigene Website. Und jetzt gibt es eben #Female Pleasure, den Film, der die Macht des Redens dokumentiert.
Ich war immer erstaunt, wie die Frauen stillschweigend akzeptiert haben, dass sie auch nach 2000 Jahren von der Kirche noch immer nicht als gleich-wertitge Partner akzeptiert werden. Wenn sich die Kirche nicht ändert, muss man sie ändern!
Rolf Eberli
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