Beim Namen nennen Tote Flüchtlinge nicht vergessen
Der jüngst angezettelte Krieg entsetzt mich zutiefst. Spontane Gefühle von Ohnmacht werden gross. In der riesigen Solidarität mit den flüchtenden Ukrainerinnen und Ukrainern sehe ich zugleich auch einen konstruktiven Umgang mit dieser Ohnmachtserfahrung. Allerdings verstören mich Berichte über den Umgang mit People of Color, die in eben diesen Tagen ebenfalls aus der Ukraine fliehen wollen, die aber an der polnischen Grenze zurückgewiesen werden.
Gedenken gegen Ohnmacht
Unser Wissen über so viele unnötige Gewalt-Opfer ist nicht neu. Zwischen 1993 und 2021 sind 44'000 Menschen an den Grenzen Europas umgekommen. Inzwischen sind es bereits mehrere Tausend mehr. Sie sind im Mittelmeer ertrunken, wurden am Grenzzaun totgeschlagen, erschossen, sind vor Durst und Erschöpfung irgendwo zusammengebrochen oder durch Suizid im Gefängnis gestorben… Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder, Babys.
Dieser Menschen zu Gedenken ist ein Versuch, gegen die Ohnmacht angesichts der Festung Europa anzukämpfen. Deshalb möchten wir diese umgekommenen Flüchtlinge alle beim Namen nennen. Das Netzwerk «UNITED for Intercultural Action» versucht, sämtliche Opfer zu dokumentieren. Von vielen konnte der Name bis jetzt nicht eruiert werden, von anderen wird nicht einmal die Leiche gefunden, aber man weiss, dass sie auf einem gesunkenen Boot waren.
«Die schiere Zahl von Zigtausenden von Toten macht, dass ich im Kopf automatisch abstrahiere. Doch das Schreiben ihrer Namen auf diese Stoffstreifen macht mir bewusst: Hinter jedem Opfer steht ein Schicksal, ein ganzes angefangenes Leben mit seinen Hoffnungen und Fähigkeiten, mit Beziehungen zu Schwestern, Brüdern, Eltern, Kindern… einfach so abgebrochen durch den Tod an der Grenze. Ich bin so traurig und will mir diese Trauer auch nicht ausreden lassen.» (Statement einer sich spontan beteiligenden Passantin am 19. Juni 2021)
«Beim Namen nennen» müssen wir die andauernde katastrophale Situation von unzähligen Menschen, die auf der Flucht nach Europa nicht zuletzt deshalb in Lebensgefahr geraten, weil es aus vielen Katastrophengebieten praktisch keine sicheren Fluchtwege mehr gibt. In Zürich fand «Beim Namen nennen» schon dreimal statt, jeweils in der zweiten Juni-Hälfte zum Flüchtlingstag. Es ist wie eine Trauerfeier, die teils in der Kirche, teils draussen mit Passantinnen und Passanten stattfindet. In der Kirche wird vorgelesen, was von einer umgekommenen Person bekannt ist: Name, Herkunft, Todesdatum und Todesursache. Draussen wird, was drinnen gelesen wird, auf Stoffstreifen geschrieben. Diese Stoffreifen werden an Schnüren bei der Wasserkirche, dem Fraumünster und dem Grossmünster aufgehängt.
«Beim Namen nennen» wächst. Offenbar gibt es ein verbreitetes Bedürfnis, dem Entsetzen irgendwie angemessen Ausdruck zu verleihen und die Trauer mit anderen Menschen zu teilen. Statt die Gefühle der Ohnmacht zu verdrängen, möchten wir ihnen Gesten entgegensetzen, die Hoffnung machen. Auch in Zürich wird von Jahr zu Jahr die Anzahl der Organisationen grösser, die sich daran aktiv beteiligen. Auch die Dauer vergrössert sich. Im Juni 2020 war es noch ein Samstag, im 2021 bereits eine ganze Aktionswoche.
Dieses Jahr wird es ein Aktionsmonat: vom 18. Mai bis zum 19. Juni. Auch in einzelnen Pfarreien ist es möglich, mit einer Aktion auf Interesse und Echo zu stossen. In der Pfarrei Liebfrauen, Zürich, werden zum Beispiel an jedem Wochentag in den 30 Minuten vor der Eucharistiefeier einige Namen von dieser langen Liste gelesen.
Pfarreien, die auch eine Aktion in Bezug zu diesem Aktionsmonat planen, können sich gerne entweder per Mail christoph.albrecht@jesuiten.org oder telefonisch 079 155 64 25 bei mir melden.
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