Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt «Sexualisierte Gewalt hat mit Machtstrukturen zu tun.»
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Unter welcher Voraussetzung konnte die Studie über das Bistum Münster wissenschaftlich seriös und unabhängig gestaltet werden?
Thomas Großbölting: Ein zentraler Punkt in den Verhandlungen mit dem Bistum war: Zu welchen Akten erhalten wir Zugang? Der Bischof hat uns schliesslich alle Türen zu sämtlichen Archiven geöffnet. Und es war erstaunlich, wie viele Akten das Bistum über sexualisierte Gewalt angelegt hat. Es wurde klar: Missbrauch war kein Geheimnis, sondern eine wohlbekannte Tatsache – und das bereits vor 2010.
Welche Quellen haben Sie weiter genutzt?
Ebenso wichtig waren für uns Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Dabei haben wir vor allen Dingen mit betroffenen Frauen und Männern gesprochen. Sie haben uns die Dimensionen der persönlichen Erfahrung eindrücklich vor Augen geführt. Sie gaben uns aber auch wertvolle Hinweise, wo wir in den Akten weiter nachforschen mussten. So wurde beispielsweise sichtbar, welche Institutionen und Personen Mitwisser waren. Und wie in der kirchlichen Personalführung über Missbrauch und Täter gesprochen wurde. Erst dadurch liessen sich grössere Zusammenhänge erschliessen.
Was unterscheidet eine historische Studie von einem juristischen Gutachten?
Juristinnen und Juristen konzentrieren sich auf strafrechtlich und kirchenrechtlich relevante Verstösse. Für uns Historikerinnen und Historiker ist das zwar ebenfalls eine wichtige Perspektive, aber nur eine unter mehreren. Um nur zwei weitere zu nennen: Wir untersuchen auch Macht- und Mentalitätsfragen. Also: Wie haben sich Macht und Mentalität im historischen Kontext gestaltet und verändert? Wir erzählen – gebunden an Quellen – Zeitgeschichte und machen damit das Thema und seine Entwicklung nachvollziehbar.
Wurde Ihnen beim Verfassen der Studie auf die Finger geschaut?
Wir haben unsere Arbeit durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begleiten lassen, aber auch durch betroffene Frauen und Männer, die in einem Beirat versammelt waren und regelmässig alle zwei, drei Monate über die Fortschritte unserer Arbeit informiert wurden und diese mit uns diskutiert haben. Das war eine sehr wertvolle Hilfe, weil uns dabei beispielsweise immer wieder klar wurde, wie wichtig es ist, die Perspektive der Betroffenen zu integrieren. Um die Unabhängigkeit der Studie zu gewährleisten, war die Kirche weder Auftraggeberin der Studie noch im Beirat vertreten.
Mit welcher Grundfrage sind Sie an die Arbeit gegangen?
Sexualisierte Gewalt hat immer mit Machtstrukturen zu tun. Wir haben deshalb vermutet, dass kirchliche Machtverhältnisse ganz spezifisch geprägt sind. Und tatsächlich ist die Machtstruktur der katholischen Kirche von der Sakramentenlehre geprägt. Es geht um die Vorstellung der Kirche als Sakrament, in dem Papst, Bischöfe und jeder einzelne Kleriker Jesus Christus verkörpern. Aus dieser Überzeugung heraus muss die katholische Kirche an ihrer Heiligkeit und der Heiligkeit ihrer Vertreter festhalten. Das erklärt auch, weshalb Klerikalismus in der katholischen Kirche weit über Kumpanei und Netzwerke hinausgeht.
Sie sind Katholik und haben einst sogar katholische Theologie studiert. Hatte das einen Einfluss?
Es war sicher ein Vorteil, dass ich die Feinheiten der Mechanismen in der katholischen Kirche gut kenne. Als Historiker lasse ich mich jedoch nicht davon leiten, dass ich Mitglied der katholischen Kirche bin. Die Studie hat allerdings mein persönliches Glaubensleben verändert. Vieles von dem, was ich als Jugendlicher und junger Erwachsener sehr positiv erlebt habe, erscheint mir heute in einem anderen Licht. Ich bin zwar weder persönlich noch in meinem Umfeld mit sexualisierter Gewalt in Berührung gekommen, aber wie wir an den Lippen eines charismatischen Pfarrers hingen, das empfinde ich im Rückblick als doppelbödig. Heute beschreibe ich mich als religiös heimatlos.
Welcher Befund der Studie hat Sie überrascht?
Es gab und gibt in den Personalabteilungen der Bistümer und Generalvikariate ein grosses Wissen über sexualisierte Gewalt und über die Täter. Das wird vermutlich in der Schweiz nicht anders sein als in Deutschland. Bis 2010 wurde das vor allem verschwiegen, weil man die Institution schützen wollte. Es ging dabei nicht in erster Linie um den Schutz des Mitbruders, als vielmehr um die Rettung der Priesterweihe und des Kirchenbildes. Ab 2010 verändert sich das nach und nach. Jetzt wird die Verantwortung benannt und kann kaum noch als Einzeltat abgetan werden.
Wie hat sich dieser «Schutz» der Kirche gezeigt?
Es gibt eine bis in die 90er-Jahre zu beobachtende komplette Konzentration auf die Täter bei der Bistumsleitung. Man geht mit den Tätern mitbrüderlich um und schont sie. Sie sollen ihre priesterliche Tätigkeit nach Möglichkeit weiter ausüben können. Ich stelle mir immer noch die Frage, wie hochgestellte Geistliche mit kirchenrechtlicher und theologischer Ausbildung so verantwortungslos handeln konnten. Es gab ein verbreitetes Wissen um sexualisierte Gewalt, nicht nur in der Verwaltung der Bistümer, sondern auch in vielen Gemeinden. Dass dennoch so wenig gegen die Täter unternommen wurde, das ist für mich ein erschreckender Befund.
Wie hat der Bischof des Bistums Münster auf die Studie reagiert?
Wir haben unsere Studie im Juni 2022 veröffentlicht. Eine Woche später gab Bischof Felix Genn eine Pressekonferenz. In dieser hat er sehr deutlich gemacht, dass er die Studie genau gelesen hat und ernst nimmt. Er verkündete einen ganzen Massnahmenkatalog: Mehr Prävention, neue Melderegeln, schärferes Vorgehen gegen Täter. In mancher Hinsicht hat das Bistum Münster damit eine Vorreiterrolle übernommen.
Dennoch gibt es eine Dimension, die mir, und jetzt spreche ich auch als Katholik und nicht nur als Historiker, die mir immer noch fehlt: Die spezifische Machtstruktur in der katholischen Kirche, das Kirchenbild, der Klerikalismus, die Sexualmoral, all diese Dinge wurden nicht ernsthaft in Frage gestellt, obwohl sie sexualisierte Gewalt nachweislich begünstigen.
Was könnten all die Studien konkret auslösen?
Der Umgang mit Betroffenen ist immer noch stark davon geprägt, dass die Kirche Gremien schafft, in die dann auch Betroffene eingeladen werden. Die Beratungen finden meist in kirchlichen Räumlichkeiten statt. Und die Sitzung wird womöglich von einem Geistlichen geleitet. Diese Einbindung kann aber eigentlich nicht im Sinne der Betroffenen sein. Sie müssten sich ganz auf ihre eigenen Bedürfnisse konzentrieren können. Ich sehe in solchen Gremien unter kirchlicher Trägerschaft sogar eine Tendenz, Betroffene einmal mehr für die Bedürfnisse der Kirche zu instrumentalisieren, weil sie zur «Heilung» der Kirche beitragen sollen. Es wäre hilfreicher, wenn die Kirche Betroffenen-Organisationen ohne Auflagen finanzieren würde und es ihnen überlassen bliebe, ob und wie sie die Kirche und ihre Vertreter einbeziehen wollen.
Und wie könnte es für die katholische Kirche weitergehen?
Wenn die katholische Kirche nicht in völliger Bedeutungslosigkeit versinken will, muss sie ehrlicher werden. Wir Katholikinnen und Katholiken leben mit guten Gründen längst nicht mehr so, wie es die katholische Sexualmoral vorschreibt. Durch die Kluft zwischen Praxis und Anspruch entsteht eine Art von Bigotterie, die nicht zuletzt ein Klima für Sexualstraftäter schafft. Neben der Sexualmoral zeigt sich die Kluft zwischen kirchlicher Lehre und konkreter Lebenspraxis auch in der Frauenfrage. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die katholische Kirche feminisiert. In der bürgerlichen Kernfamilie ist die Mutter diejenige, die Religion an ihre Kinder weitergibt. Den Gemeinden stehen Priester vor, aber sie werden von Frauen getragen. All das spiegelt sich in den Strukturen der Kirche nicht wider. Und mit den feministischen Bewegungen im 20. Jahrhundert fällt dieses Strukturdefizit immer stärker ins Gewicht. Die Kirche wird sich endlich klar zu den allgemeinen Menschenrechten bekennen und diese Rechte auch in ihren Strukturen umsetzen müssen.
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