Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt Porträt: z.B. Anni Meier
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Als Anni Meier in Schwamendingen geboren wurde, gab es dort noch keine Pfarrei und schon gar keine Pfarrkirche. Erst ein Jahr vor ihrer Geburt war das Bauerndorf Schwamendingen zu einem Zürcher Stadtteil geworden, ein ländlicher Flecken ohne Autobahn, mit einer Handvoll katholischer Familien unter lauter Protestanten.
Anni Meier erinnert sich gut daran, wie sie jeweils am Sonntag mit der ganzen Familie zu Fuss nach Oerlikon in den Gottesdienst ging. Nach Oerlikon zu den Städtern, unter denen sie sich immer als Fremde fühlte. Wo man nur Schwamendinger war. Und dann, als sie 14 Jahre alt war, tauchte Prälat Franz Höfliger in Schwamendingen auf. Der Bischof von Chur hatte ihn beauftragt, hier eine Pfarrei aufzubauen und einen Kirchenbau vorzubereiten. Höfliger habe es mit den Reformierten gut gekonnt, erinnert sich die heute 87-jährige, die abgesehen von zwei Zwischenjahren ihr ganzes Leben in Schwamendingen gelebt hat. Er habe einen ökumenischen Geist ausgestrahlt, noch bevor das Wort «Ökumene» gebräuchlich war.
1957 wurde die St.-Gallus-Kirche eingeweiht. Seither hat Anni Meier zwei Daheim: ihr Haus mit dem wunderschön heimeligen Garten und die Pfarrei St. Gallus. Auf dem Spaziergang dorthin wird an jeder Ecke die Geschichte lebendig. Ihr Schritt ist bedächtig, in den Erinnerungen schwingt auch etwas Wehmut mit, am Friedhof vorbei wird sie ganz ruhig, vor ein paar Jahren hat sie von ihrem Mann Abschied nehmen müssen, aber Anni Meiers Blick ist hellwach, ihre Stimme fest und klar. Sie lebt nicht in der Vergangenheit. Obwohl sich in all den Jahren gerade in Schwamendingen so ungeheuer viel verändert hat.
Ihre Kinder und Enkel mögen es ihr gönnen, dass für sie die Pfarrei eine Heimat ist. Aber sie bräuchten die Kirche nicht mehr. Wenn über Gott und die Welt diskutiert wird, hört Anni Meier vor allem zu, und denkt dabei nicht selten: «Ich muss ihnen recht geben, ob ich will oder nicht. Aber als wir jung waren, haben wir nicht nachgefragt. Wir haben wahrscheinlich naiver geglaubt. Heute habe auch ich viel mehr Fragezeichen.» Die Fragezeichen lässt sie zurückhaltend im Raum stehen, es werden daraus weder Abrechnungen noch Forderungen. Sie scheint mit ihrer ganz persönlichen Kirchengeschichte versöhnt. Einen ihrer Zweifel drückt sie in berührend schlichten Worten dann aber doch aus: «Ich bin nicht mehr sicher, ob ich meinem geliebten Mann im Jenseits begegnen werde.»
Anni Meier hat in ihrer Pfarrei nicht nur Heimat gefunden, sie hat diese Heimat auch jahrzehntelang mitgestaltet. Ab Mitte der Siebziger- Jahre, die Kinder besuchten bereits die Oberstufe, hat sie sich über ein Jahrzehnt lang intensiv im Frauenverein und in der Kirchenpflege engagiert. «Ich bin in eine gute Zeit reingekommen. Zeitweise hatte der Frauenverein fast 300 Mitglieder, die auch rege an unseren Veranstaltungen teilnahmen. Wir haben viele schöne Feste gefeiert, haben miteinander getanzt, gegessen, getrunken. An der Fastnacht war der Saal jeweils pumpenvoll. Erst morgens um fünf ging es nach Hause.»
Kirche, so wie Anni Meier sie beschreibt, ist kein Gebäude, keine Organisation und auch kein Lehrbuch. Kirche ist Lebensgemeinschaft. «Am letzten Sonntag war ich mit drei Ehepaaren zusammen, alle zwischen 80 und 90 Jahre alt. Wir sind dank der Pfarrei seit ewig befreundet und haben viel gemeinsam unternommen.»
Innerhalb von 73 Jahren hat Anni Meier fünf Pfarrer erlebt. Sie spricht nicht von allen mit derselben Begeisterung, aber immer mit grosser Wertschätzung. Sie sieht in ihnen nicht Pfarrherren, sondern Mitmenschen. Feinfühlig beschreibt sie auch die schwierigen Momente, die sie in all den Jahren miterlebt hat. Die Vermittlung war ihr immer ein wichtiges Anliegen. Pfarrer Alfred Böni, seit nun 22 Jahren in Schwamendingen, wird von ihr mit einem einzigen Wort charakterisiert: «Menschenfreundlich!»
Von aussen betrachtet mag die Kirchenwelt in Schwamendingen klein sein. Anni Meier blickt selten nach Rom. «St. Gallus ist für mich massgebend. Hier kann ich etwas bewirken. Wenn ich in den Gottesdienst gehe, ist mir die Predigt wichtig, da will ich etwas zum Nachdenken kriegen. Auch eine schöne musikalische Gestaltung schätze ich sehr. Und ich begegne Menschen, die mir etwas bedeuten. Das tut gut.» Anni Meiers Kirchenwelt ist klein – aber nicht eng. «Ich lese viel. Und ich habe mich in meinem Leben natürlich auch verändert. Als ich am Weissen Sonntag in der Kirche war, dachte ich: ‹Die machen das super, die geben den Kindern heute viel mehr mit als uns damals.›» Und wenn Frieda Mathis, die zusammen mit Alfred Böni die Pfarrei leitet, dereinst Priesterin sein könnte? «Da hätte ich gar nichts dagegen.»
Anni Meier muss davon überzeugt werden, dass ihre Geschichte erzählenswert ist. Sie sei nichts Besonderes, immer mit anderen unterwegs gewesen und habe nichts einfach allein geleistet. Mit 87 Jahren posiert sie zum ersten Mal für einen Fotografen in ihrer Heimatpfarrei. Das kommt ihr sichtlich seltsam vor. Aber sie lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Dafür reichen ihre Wurzeln hier zu tief. Dann verabschiedet sie sich. Sie wird auf dem Heimweg noch einen Halt auf dem Friedhof machen. Vorher jedoch zeigt sie uns den Weg zur Haltestelle und winkt uns im losfahrenden Tram nach.
Text: Thomas Binotto
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