"Mehr Moral täte allen gut!" pariert Markus Arnold
CVP-Präsident Gerhard Pfister und die Freiburger Lokalpolitikerin und Theologin Béatrice Acklin Zimmermann stört es, wenn sich die Kirchen politisch einmischen (Tages-Anzeiger vom 7. Januar 2019) und wollen die Kirchen mit einem Thinktank in die Pflicht nehmen. Das gibt zu reden. Gedanken dazu gemacht hat sich auch Markus Arnold, ehemaliger CVP-Präsident des Kantons Zürich und bis letztes Jahr Studienleiter am Religionspädagogischen Institut der Universität Luzern.
Der Rundumschlag von Gerhard Pfister und Béatrice Acklin ist gar nicht so leicht in der nötigen Kürze zu parieren. Ich will es trotzdem versuchen.
Zuerst aber eine persönliche Vorbemerkung: Ich bin Pfister und Acklin dankbar für die Lancierung dieser Debatte, auch wenn ich anderer Ansicht bin. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass sich die Kirchen gegenwärtig in Fragen der Politik zu sehr zurückhalten. Ich habe meinen Studierenden als Dozent für Theologische Ethik immer gesagt, es werde viel zu wenig über Politik gepredigt. Das prophetische Wort sei einem psychologisierenden, esoterisch angehauchten, aber sicher völlig apolitischen Wohlfühlgerede gewichen. Offensichtlich liege ich falsch. Denn ich verlasse mich nur auf meine Wahrnehmung. Thesen à la Pfister und Acklin sollten indes, wenn sie ethisch korrekt sein wollen, nicht von Einzelfällen ausgehen, sondern sich empirisch untermauern lassen.
Ich möchte in drei Kritikpunkten auf die Position von Pfister und Acklin eingehen.
1. Mangelndes Geschichtsbewusstsein
Das Thema Kirche und Politik ist ein Dauerbrenner. Häufig wird den Kirchen vorgeworfen, sie mischten sich zu wenig in die Politik ein. So ist vom Versagen der Kirchen in Deutschland zwischen 1933 und 1945 die Rede. Sicher kann man sagen, dass es in dieser Zeit eher mutige Pfarrer waren, die klarere Worte sprachen als Bischöfe. Etliche kamen auch in Konzentrationslager. Vielleicht beurteilt die spätere Geschichtsschreibung Franziska Driessen-Redings Aussage über die Nichtwählbarkeit der SVP einmal differenzierter. Nur am Rande bemerkt:
Driessen-Reding hat sich auf eine Aussage von Bischof Henrici aus dem Jahr 2004 bezogen. Dies müsste im Sinne einer „ethical-correctness“ erwähnt werden. Mir gibt zu denken, dass einer engagierten Kirchenfrau dies ständig vorgeworfen wird, während der zitierte bischöfliche Kirchenmann zumindest in der Öffentlichkeit geschont wurde.
Lange war in der Schweiz Politik von der Kanzel Ausdruck des gesunden Menschenverstandes, wenn er sich mit den Parolen von FDP (reformierte Variante) oder CVP (katholische Variante) identifizierte. Der Wechsel kam ab 1970, als immer mehr Theologen und Theologinnen in der SP und später bei den Grünen zu politisieren begannen.
Das Diktat „Kirche hat sich aus der Politik herauszuhalten!“ wurde immer lauter und wird nun von Pfister und Acklin neu befeuert. Untermauert wurde das liberale Credo mit der damals in bürgerlichen Kreisen beliebten Systemtheorie Luhmanns. Jedes System in der Gesellschaft hat eine spezifische Funktion und damit auch je eigene Sachzwänge mit entsprechenden ethischen Überzeugungen. Kirche war zuständig für existentielle Grenzfragen, in welchen die Vernunft an Grenzen kam, also Krankheit, Tod, Lebenskrisen – da galt es Trost zu spenden. Individualethik eben ohne soziale Bezüge. Dem wurde damals vom Mainstream der Theologie (natürlich „links“) mit der Adaption der Befreiungstheologie geantwortet. Tempi passati. Im 21. Jahrhundert ist Ruhe eingekehrt – meinte ich.
2. Unterscheidungen, Begriffe
Ethik ist eine wissenschaftliche Disziplin der Philosophie oder der Theologie. Es gibt die verschiedensten Ethiken. Darum ist es wichtig, mit geklärten Begriffen zu arbeiten.
Politik ist im Sinne von Aristoteles das Bemühen in der Polis, im antiken Stadtstaat Gerechtigkeit zu befördern. Dieses Bemühen finden wir heute in allen menschlichen Gemeinschaften. Das gemeinsame Bemühen für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, ist in unserer föderalistischen Demokratie Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger.
Politik ist kein Privileg von politischen Parteien. Die Akteure der Zivilgesellschaft haben das Recht und die Pflicht, sich ebenfalls einzumischen. Dabei spielen die Kirchen zusammen mit NGOs nach wie vor eine wichtige Rolle.
Wichtig ist die Transparenz: Der weltanschauliche Hintergrund muss deklariert werden und die ethischen Urteilen zugrundeliegenden Fakten sind klar darzulegen. In diesem Sinne haben Kirchen grundsätzlich das Recht, auf der Basis biblisch fundierter Werte und ihrer sozialethischen Tradition (katholisch: Soziallehre) Stellung zu beziehen. Abgesehen davon sind sie dazu verpflichtet: Ein Glaube, der Gottes- und Nächstenliebe untrennbar verbindet, wird in allen möglichen Zusammenhängen auch politisch relevant. Kirchen sind keine Trostanstalten. Sie kümmern sich nicht nur um individuelles Leiden, sondern sind verpflichtet, zur Humanisierung der Gesellschaft als Ganzes beizutragen. Daraus ergibt sich auch politisches Engagement.
Dabei beten die Kirchen indes nicht Parteiparolen nach, können aber je nach Sachfrage zu ähnlichen Schlüssen kommen, wie einzelne politische Parteien, was deren Gegner naturgemäss erbost.
Dass die Kirchen gut beraten sind, dies gezielt dann zu tun, wenn es um grundlegende Fragen vor allem im Zusammenhang mit Menschenwürde, Menschenrechten, der Bewahrung der Schöpfung geht, versteht sich von selbst. Dies schärft ihr prophetisches Profil.
Die katholische Kirche steht dabei vor allem der Wertethik (Max Scheler und Nikolai Hartmann) nahe. Jede Partei, jede Religionsgemeinschaft handelt auf der Basis von grundlegenden Überzeugungen, die sich in Werten ausdrücken lassen. Daraus werden dann auch konkrete Normen in einzelnen Sachfragen abgeleitet. Wenn Pfister den Kirchen unterstellt, sie betrieben nur Gesinnungsethik und seien im Unterschied zu Politikern zu „sauberen Güterabwägungen“ nicht bereit, verkennt er, dass auch Güterabwägungen der Wertethik nahe stehen. Viele Politiker und Politikerinnen beschäftigen sich zudem nicht gross mit Ethik, sie zelebrieren ihre Gesinnung und reden gerne feierlich von irgendwelchen Werten, z.B. vor Wahlen und Abstimmungen oder wenn Pfister das christliche Abendland wieder aufleben lässt. Werte müssen reflektiert und definiert werden.
Unterschiedliche Wertekonstellationen führen zu anderen Menschenbildern und zu anderen Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft und so auch zu unterschiedlichen Normen, das heisst zu konkreten Handlungsanweisungen als Umsetzung von Werten.
So wird man auf der Basis eines christlichen Menschenbildes in der Flüchtlingspolitik zu grosszügigeren Normen neigen. Die Selbstbestimmungsinitiative ist vor allem auf der Basis der Menschenwürde und der Menschenrechte mit der Lehrtradition der katholischen Kirche seit dem Konzil nicht vereinbar (gegen diese richtete sich die Politik der SVP seit Blocher Bundesrat war, im Zürcher Verfassungsrat nahm die SVP dezidiert Stellung gegen die Menschenrechte, was aus der Sicht ihres Menschenbildes konsequent ist). Auch der Konzernverantwortungsinitiative muss aus christlicher Sicht zugestimmt werden. Da darf man auf Pfisters und Acklins Think Tank „Kirche/Politik“ gespannt sein. Sie werden gut beraten sein, den Luzerner Ethikprofessor Peter Kirchschläger einzuladen, für den es aus christlicher Sicht nur ein Ja geben kann.
3. Fazit: Mehr Moral!
Sowohl in der Politik wie auch im kirchlichen Alltag haben wir es selten mit Ethik zu tun. Ethik versucht in sogenannten Diskursen Einstimmigkeit. Meist geht es dabei darum, für eine neue Norm die besten Argumente zu finden, der wenn möglich alle Beteiligten zustimmen können. Im Unterschied zur Politik werden nicht Mehrheiten gesucht. Ethik ist darum eine zeitraubende Angelegenheit mit ungewissem Ausgang.
Politik hält es eher mit der Moral. Moral geht von gängigen Überzeugungen aus, die vor allem auch im Alltagshandeln bedeutsam sind. Moral ist auch eher weltanschaulich geprägt als Ethik. Aber auch in den Kirchen wird meistens auf der Basis von moralischen Überzeugungen gepredigt. Wir können es uns rein zeitlich gar nicht leisten, unser Handeln ständig auf ethischem Niveau zu reflektieren.
Etwas ganz anderes ist das Moralisieren. Moralisieren ist der Missbrauch der Alltagsmoral in ideologischer Absicht. Man versucht beim Gegenüber ein schlechtes Gewissen zu wecken, um es unter psychischen Druck zu setzen. So kann man ohne grosse Auseinandersetzung die eigenen Vorstellungen durchsetzen. Der Vorwurf des „Moralisierens“ wird häufig gemacht. Oft ist er selber Ausdruck des Moralisierens. Das scheint mir bei Pfister/Acklin der Fall zu sein. Wobei ich jetzt aufpassen muss, dass ich nicht in dieselbe Falle tappe …
Wie gesagt: Wir entscheiden uns im Alltag meist aufgrund von bewährten Überzeugungen, eben der Alltagsmoral. Aber wir müssen bereit sein, diese Moral ethisch zu verantworten, indem wir nüchtern deren Folgen bedenken. Das ist dann wiederum eine ethische Reflexion. Ethik wird so zur kritischen Instanz von Moral. Darüber lohnt es sich sachlich ins Gespräch zu kommen: Nüchtern die Faktenlage prüfen, sich gegenseitig Rechenschaft über eigene Menschenbilder und deren Hintergründe ablegen, das wäre heute wichtig. Und dann glaubwürdig moralisch zu leben und zu handeln. Das tut allen gut, Politikern, Politikerinnen und kirchlichen Verantwortlichen.
Insofern kann es gar nicht genug „Think-tanks“ zu ethischen Fragen geben. Grundsätzlich kann dies auch ein Stammtisch einlösen, wenn der Alkoholkonsum in Grenzen gehalten wird und auf das Niveau geachtet wird. Sonst wird dann halt einmal mehr moralisiert. Das kann verhindert werden, indem nicht nur handverlesene Teilnehmende beteiligt sind, sondern auch die sogenannten „Gegner“. Das hebt das Niveau ungemein.
Wir dürfen darum auf den Think-Tank von Pfister/Acklin gespannt sein. Das Niveau wird auf der Ebene von Moral sein. Das ist aber nicht schlimm, denn mehr Moral tut allen gut.
Markus Arnold (65) war zwischen 1999 und 2018 Studienleiter am Religionspädagogischen Institut der Universität Luzern. Während 13 Jahren sass er im katholischen Parlament, der Synode, zwischen 1995 und 1999 als deren Präsident. 2010 ist im Rex Verlag Luzern sein Buch Politik und Ethik in christlicher Verantwortung erschienen. Pensionär Arnold lebt mit seiner Frau in Eschenbach (LU) und engagiert sich als Pastoralassistent in den Pfarreien Rain und Hildisrieden.
www.markus-arnold.ch
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