Interview-Reihe Kirche leben in Corona-Zeiten - mit Josef Annen
Was war für Sie das einschneidenste Ereignis seit dem Lockdown?
Das war eindeutig die Entschleunigung. Die Anlässe, Sitzungen und Besprechungen während der Woche, aber auch die Firmungen an den Samstagen und Sonntagen sind gefallen wie Dominosteine. Auf einmal habe ich mehr oder weniger eine leere Agenda.
Wie gehen Sie persönlich mit der neuen Situation um?
Ich gebe mir eine neue Tagestruktur, stehe früher auf als sonst, lege mich dafür früher schlafen. Ich finde zu einer besseren Balance zwischen Arbeit und Gebet und nicht zuletzt: Ich schlafe besser. Was ich vermisse sind die zwischenmenschlichen Kontakte: E-Mails, SMS, Whatsapp, Telefonate und Videokonferenzen sind kein Ersatz für Begegnungen von Mensch zu Mensch.
Ihr schönstes Erlebnis in der Corona-Zeit?
Das Erlebnis, das in meiner Seele bis jetzt am tiefsten nachwirkt, ist kein schönes, sondern ein trauriges: Es ist die Beisetzung von Peter Wittwer im Familienkreis auf dem Friedhof Manegg. Einer, der ein Leben lang der Öffentlichkeit gedient, zwischen Schweizern und Ausländern, christlichen Konfessionen und Religionen Kontakte geknüpft und Brücken gebaut hat, wird im Kreis von sieben Personen verabschiedet.
Hat Corona die Kirche verändert?
Zur DNA von Kirche gehört die Tischgemeinschaft. Mit vielen Gläubigen vermisse ich die Teilnahme am Herrenmahl. Aber wir haben dank Corona neu entdeckt, dass die Armen und Notleidenden, die Verwundeten und Trauernden einen Ehrenplatz am Tisch des Herrn haben. Der Dienst unserer Seelsorger und Seelsorgerinnen in den Spitälern und Pflegezentren, die Speisung der Armen in der Langgasse von Zürich, die Abgabe von Essensgutscheinen durch die Caritas sprechen Bände.
Was soll nach dem Ausnahmezustand für das kirchliche Leben bewahrt bleiben?
Bewahrt bleiben sollen die Option für die Armen unter uns und in der weiten Welt sowie der Stellenwert von Hauskirche, Gebet und Feier in der Familie. Und nicht zuletzt: Es ist der von den Toten erstandene Christus, der sein Volk zu Tisch bittet und das kirchliche Leben nährt.
Was haben Sie persönlich aus der Corona-Krise gelernt?
Da bin ich noch am Lernen. Aber so viel habe ich schon gelernt: Kirche lebt auch ohne mich.
Hat der Lockdown neben all den bedrückenden Seiten auch etwas Gutes?
Der Lockdown lehrt uns, was im Leben zählt und was der Prophet Micha in die Worte fasst: "Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott“ (Micha 6,8).
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