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«Nie wieder Krieg!» war einst eine dringliche Mahnung an ehemalige Kriegsparteien. Dann stand das Ausrufezeichen für Sicherheit in einem friedlichen Europa. Bis der Krieg in der Ukraine diese scheinbare Gewissheit brutal zerstört hat.
30. Mai 2022 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Der Aufruf zur Gewaltlosigkeit ist nicht länger ein gut klingender Slogan, sondern wieder eine folgenschwere Zumutung. Der Jesuit Franz-Xaver Hiestand tastet sich in seinem Essay an ein erträgliches Verständnis von Gewaltlosigkeit im Geist von Pfingsten heran.


Es ist bedrückend bequem, von einem sicheren Ort aus zu religiösen Gedanken über den niederträchtigen Überfall Russlands auf die Ukraine anzusetzen. 160 Flugminuten von Kloten entfernt wird gefoltert und mit dem Tod gerungen. In kurzer Zeit sind in Europa Millionen von Lebensperspektiven zersplittert, während in der Schweiz vieles seinen gewohnten Lauf nimmt. Die folgenden Überlegungen haben angesichts des Mordens und der Verzweiflung im europäischen Osten und der steigenden schweizerischen Abstumpfung gegenüber den Schreckensnachrichten aus der Ukraine den Charakter einer biederen Ersatzhandlung. Und doch …

Gegenwärtig ist häufig von einer «Zeitenwende» die Rede. Dieser Begriff erstreckt sich nicht nur auf politische Strategien und Doktrinen, sondern auch auf Auffassungen, mit denen wir eben noch bis ans Ende unserer Tage zu leben gedachten. Dazu zählen auch die bisherigen Konzepte von Gewaltlosigkeit. Der 24. Februar, der Überfall Russlands auf die Ukraine, gibt auch jenen Christinnen und Christen zu denken, für die bisher Gewaltlosigkeit ein leitendes Prinzip ihres Handelns war.


Die Warnung von Tomáš Halík

Schon im Mai 2014 warnte der katholische Soziologe und Religionsphilosoph Tomáš Halík, dass die Kremlherrscher versuchten, das alte Sowjetimperium wieder zu errichten. Er wies darauf hin, dass jetzt ehemalige KGB-Agenten Ikonen von Christus und der Mutter Gottes küssen, und warb  für das grosse Projekt eines geeinten Europas. Nur dieses schütze vor äusseren Gefahren und vor einer «Explosion der Barbarei im Innern», vor extremem Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Das Christentum müsse dem geeinten Europa eine neue Kultur geben. 

Kerngedanke einer solchen Kultur sei ein Glaube, der Wunden trägt und die Wunden ernst nimmt. Halík erinnerte an den Apostel Thomas, der trotz seiner Zweifel zum Auferstandenen sagt: «Mein Herr und mein Gott» (Johannes 20,28). Dazu sei Thomas fähig, weil Jesus ihm seine eigenen Wunden gezeigt habe.

«Ein Gott ohne Wunden ist ein toter Gott», so Halík. Eine Religion, die das Unglück der Menschen und ihr Leid nicht zur Kenntnis nimmt, ist Opium für das Volk. Eine Religion aber, welche die Wunden Gottes und der Welt sieht, führe in die Tiefe und trage zur Heilung bei. 

Wir haben Halíks Warnungen und Anregungen damals zu wenig beachtet. Doch auch heute, nach dem Einbruch des Grauens, nach dem neuen Brudermord von Kain, eröffnen sie Perspektiven. Leise und vage verweisen sie auf jenes Ereignis, in dem kollektive und individuelle Ängste auf wundersame Weise in vielfältige konstruktive Prozesse münden: auf Pfingsten. Denn die Begebenheit, die Halík im Blick hat, oszilliert zwischen Ostern und Pfingsten. In die Begegnung zwischen Thomas und Jesus leuchtet nicht nur das Licht der Auferstehung, sondern weht auch der Geist von Pfingsten hinein. 


Offenbarung einer neuen Form von Frieden

Die Erzählung beginnt damit, dass sich die Jünger aus Furcht verbarrikadiert haben. Da erscheint ihnen der auferstandene Jesus, gewährt ihnen Frieden, zeigt ihnen seine Wunden und haucht ihnen dann den Heiligen Geist zu (Johannes 20,19). 

Damals hat der Gekreuzigte und Auferstandene die Jünger von Angst freigemacht; auch weil er versehrt blieb von den Wunden, den Narben entsetzlicher Gewalt. Auf heute übertragen, hiesse dies: Er schafft für jene Menschen und Gemeinschaften, die in ihrem eigenen Hass und in ihrer Schuld gefangen sind, einen Raum, in dem sie Sicherheit, Anerkennung und Freiheit spüren. Da erlangen sie Vergebung und können sich ihrerseits dafür bereit machen, anderen zu vergeben. In dieser pfingstlichen Erzählung offenbart sich eine neue Form von Frieden. 


Erfahrung von Unterschieden, ohne dass Feindschaft und Gewalt dominieren

Ergänzt werden diese Einsichten durch die noch bekanntere Pfingsterzählung in der Apostelgeschichte (Apostelgeschichte 2,1–13). Was in der Thomas-Episode als inneres Geschehen dargestellt wird, wird hier von aussen gesehen und berichtet.

Die Jünger des hingerichteten Rabbi aus Nazareth haben sich fünfzig Tage lang eingeschlossen, gelähmt von der Angst ums eigene Überleben. Da treibt ein «Brausen» die Verängstigten aufs Forum, in die Öffentlichkeit hinaus. Dort erleben sie, wie ihre Angst verschwindet. Sie schlägt in Osterfreude um, weil sie definitiv den Auferstandenen in ihrer Mitte spüren. Es wird ihnen bewusst, dass sich jene Kraft, die von Gott und von seinem Sohn ausströmt, jetzt auf sie überträgt. Pfingsten ist der Moment, an dem die Apostel definitiv verstehen, was an Ostern geschehen ist. Frei heraus reden sie vom Kreuz und dass der Hingerichtete auferstanden ist. 

Plötzlich hört jeder den anderen in seiner eigenen Muttersprache reden. An Pfingsten erfahren Menschen, dass sie unterschiedlich sind und auf die Unterschiede nicht mit Feindschaft oder Gewalt reagieren müssen. Die verschiedenen menschlichen Sprachen sind keine undurchdringlichen Sphären mehr. 

Allerdings wissen diese pfingstlichen Erzählungen, dass es eines immens hohen Aufwandes bedurfte, um zu diesem Frieden und dieser Verständigung zu gelangen. Der auferstandene Jesus Christus hat die Wundmale behalten, und Petrus erinnert in seiner Pfingstpredigt an das Kreuz und den Mord an Jesus (Apostelgeschichte 2,23). Der Weg zum Frieden und Miteinander von Pfingsten führte über die Wunden und das Opfer eines Unschuldigen. Deshalb ist Pfingsten nicht zu haben ohne ein neues Nachdenken über das, was «Opfer» damals und heute bedeuten kann.


Problemfall «Opfer»

Der Begriff des Opfers ist hochkomplex. Er besitzt eine innere Nähe zur Gewalt und zum Tod. Deswegen kann er sowohl im positiven Sinne heroische als auch destruktive Narrative entfalten. 

Jahrtausendelang sind Menschen von einem Denken geprägt gewesen, das sich stark auf Opfer und Opfern bezogen hatte. Der Mensch machte, so der Innsbrucker Theologe Wolfgang Palaver, die Erfahrung, dass er sein Leben einer höheren Macht verdankt. Dieser wollte er von Zeit zu Zeit etwas zurückgeben. Darum opferte er ihr. Im Opfern wollte er auch «zürnende Götter» versöhnlich stimmen. Erst allmählich, so Palaver, komme es in den Hochreligionen zu einer Distanzierung vom blutigen Opfer. Es wird nicht mehr benötigt, um die höhere Macht zu besänftigen. Vielmehr wird erkannt, dass das Opfer unschuldig ist und Gott auf Seiten der Opfer steht.

Die englische Sprache verfügt über zwei Begriffe für Opfer. Sie unterscheidet zwischen victim und sacrifice. Zu einem victim wird man unfreiwillig gemacht. Ein sacrifice erbringt man mehr oder weniger freiwillig. 

Jesu Kreuzestod hat victim-Anteile. Er ist das unschuldige Justizopfer, das auf furchtbare Weise fertiggemacht wurde. Doch lange sah man Jesus nicht als victim, sondern in einer magisch-perversen Form als sacrifice, dargebracht von Gott selbst zur Vergebung der Sünden.

Dennoch bleibt die Frage angesichts des Grauens in der Ukraine, ob nicht neu über Jesus und sacrifice nachgedacht werden muss und wie weit Frauen und Männer, die dort im Kampf für ihre und unsere Freiheit sterben, nicht nur victim, sondern auch sacrifice sind. Selbst der Philosoph Jürgen Habermas schreibt, dass eine solidarische Gesellschaft nicht ohne Verzicht und Opfer im Sinne von sacrifice auskommt, wenn sie nicht in einen Hyperindividualismus abgleiten will.


Anregungen von Simone Weil

Weiterhelfen können hier die Anregungen der ungemein produktiven französischen Philosophin Simone Weil. Im Spanischen Bürgerkrieg erlebte sie 1936, wie sehr Gewalt und Blutvergiessen fast alle Beteiligten in einen Rausch stürzten. «Eine massvolle Anwendung der Gewalt würde eine übermenschliche Tugend verlangen, die so selten ist wie eine bewahrte Würde im Zustand der Schwäche.» 

1941 hält sie im Blick auf die Gewalt fest, dass der Gegner nicht nachgeahmt werden dürfe. Wer sich der Dynamik von Gewalt und Gegengewalt überlasse, werde von ihr mitgerissen. Es gelte, Gewalt zu verhindern und sich von ihrer Verherrlichung klar zu distanzieren. 

Weil will die Angst vor dem Töten und den Geschmack am Töten gleichermassen vermeiden. Diese Haltung setzt für sie die Bereitschaft voraus, Gewalt eher zu erleiden als sie selbst auszuüben. Gewaltlosigkeit zu leben, hat für sie unter Umständen die leidende Hingabe und den Mut, sich selbst zu opfern, zur Folge. Nur wer Gewalt erträgt und erleidet, so Weil, schafft Möglichkeiten, sie zu verwandeln, und eröffnet dem Gegner die Chance, sich selbst zu verändern. Im Kreuzestod Jesu erkennt Weil eine solche Transformation der Gewalt. Was Simone Weil vorzeichnet, ist ein visionärer, ein sehender Pazifismus. In ihm bedeutet sacrifice nicht länger Selbstaufgabe, sondern zielgerichtetes Handeln.

An Pfingsten können wir nicht nur tiefer verstehen, was «Ostern» bedeutet. Pfingsten kann uns als Einzelne und als Gemeinschaft auch freier machen von Angst, selbst von der Angst vor der Atomkatastrophe. Das Fest und die Erzählungen, die sich darum herumranken, können uns beflügeln, weil wir erfahren, dass wir eine gemeinsame Sprache besitzen. Daraus kann im Blick auf den verwundet gebliebenen Erlöser die Hoffnung erwachsen, dass auch jene, die heute in Kriegen gequält und getötet werden, anderswo neue Räume gewinnen werden. Und sehr vage zeichnet sich beim Nachdenken über die Entwicklung vom archaischen Opfer bis hin zu Pfingsten eine Gewaltlosigkeit ab, die über bisherige Formen des Pazifismus hinausgeht. Diese Gewaltlosigkeit hält die Sprachlosigkeit angesichts der Brutalität des Krieges aus, sie erträgt die Unmöglichkeit der einfachen Antworten und sie vertraut hartnäckig auf das Pfingstwunder, in dem uns versprochen wird: Es gibt eine Sprache des Friedens, die wir alle sprechen und verstehen.