Zürcher Soziologe wird 90 Franz-Xaver Kaufmann: katholisch – kritisch und integer
Weder gehört er zu den «weisen» Alten, die über alles den Schleier abgeklärter Milde decken, noch ist er der Typ «zorniger alter Mann». Der Schweizer Soziologe Franz-Xaver Kaufmann, einer der bedeutenden seiner Zunft, der am 22. August 90 wird, dieser ebenso freundlich gelassene wie nüchtern-klare Wissenschaftler, lässt sich ungern auf emotionale Aspekte festlegen. Aber die Fähigkeit zur Empörung hat er durchaus. Und wenn er sie zulässt, wird sie in einem durch immenses Wissen gezügelten Temperament umso wirksamer.
Moralische Lethargie der Glaubenskongregation
Als beim Ostergottesdienst 2010 der Kardinal-Staatsekretär Sodano eine Ergebenheitsadresse des Kardinalskollegiums an den Papst verlas und die Missbrauchsvorwürfe als haltlos erklärte, verfasste Kaufmann spontan eine Reaktion, die unmittelbar darauf, ganzseitig, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien: Darin nennt er den römischen Würdenträger auf Grund von dessen persönlicher Involviertheit «scheinheilig», konstatiert Realitätsverlust, sieht auch den Verdacht des Verschweigens und Vertuschens bestätigt.
Sein Urteil: Die Glaubenskongregation leide an so etwas wie «moralischer Lethargie». Aber der Autor benennt auch wirksame historische, gesellschaftliche, institutionelle und ideologische, also strukturelle Gründe für solches Verhalten. Er sucht Erklärungen für das Phänomen, ohne seine Bestürzung und Erschütterung zu relativieren: dass Verbrecher an Kindern, denen schon Jesus einen Mühlstein an den Hals gewünscht hatte, von kirchlichen Behörden wissentlich gedeckt und vor rechtsstaatlicher Verfolgung beschützt werden.
Mit Katholizismus vertrauter Soziologe
«Katholische Kirchenkritik» wäre in der Tat das Wort, mit dem sich ein Strang seines publizistischen Werks zusammenfassen lässt, nicht der einzige natürlich. Und auch dieser hat seine biografische und wissenschaftliche Vorgeschichte. Mit Karl Rahner, Franz Böckle, Robert Scherer und Bernhard Welte war er in den Achtzigerjahren Mitherausgeber der 37-bändigen interdisziplinären Enzyklopädischen Bibliothek «Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft». Mit diesem Titel ist der grössere Rahmen seines Interesses beschrieben.
Wie kommt er zu dem Kirchenthema? Mit Understatement hat er einmal gesagt, er sei halt als ein mit dem Katholizismus vertrauter Soziologe von Theologen immer mal wieder angefragt worden und so in das Thema hineingewachsen. Zufällig war das nicht. Und auch kein Randthema.
Herausragendes Lebenswerk
Die Forschungsschwerpunkte und Hauptarbeitsgebiete dieses (in Ökonomie promovierten) Sozialwissenschaftlers: Geschichte und Theorie der Sozialpolitik, Familiensoziologie, aber auch Religionssoziologie. Er gehörte zu den Mitgründern der renommierten Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und wirkte dort von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1997 als Professor für Sozialpolitik und Soziologie. Von 1979 bis 1983 war er Direktor am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, von 1980 bis 1992 am von ihm ebenda gegründeten Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik. Seine Auszeichnungen sind zahlreich. 2012 wurde er für sein herausragendes wissenschaftliches Lebenswerk von der Deutschen Soziologischen Gesellschaft ausgezeichnet. Dass unter seinen drei Ehrendoktoren zwei von theologischen Fakultäten sind, ist aufschlussreich. Und dass er immer auch an Wirksamkeit orientiert war, zeigt sich darin, dass er Berater vieler wissenschaftlicher, kirchlicher und politischer Einrichtungen war.
Reflektierte Identität
Als Katholik in der Zwinglistadt Zürich aufgewachsen, wurde prägend, dass er zu einer Minderheit gehörte, die gezwungen war, über ihre Identität zu reflektieren. Die Familie stand dem Sozialkatholizismus nahe, Hans Urs von Balthasar oder der Jesuit Jakob David waren früh theologische Bezugspersonen. Der Vater, angesehener Jurist, war politischer Sprecher der katholischen Minderheit. Als Franz-Xaver auf eine reformierte Schule gehen soll, hat sein Vater sich zunächst beim Bischof rückversichert. Der liess es nicht zu.
Kennzeichnend für den Wissenschaftler Kaufmann: Als Soziologe öffnet er den Blick für die werthafte Dimension gesellschaftlicher Wirklichkeit, von Politik und Staatlichkeit. Was ihn interessiert, ist das Zusammenspiel von Ideenentwicklung, politischer Auseinandersetzung und administrativer Durchführung. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dessen Steuerbarkeit im Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik lenkt die Aufmerksamkeit auf Werthaftes: Gerechtigkeit, Solidarität, Gemeinwohl, Inklusion, Verantwortung, Vertrauen. Ihn interessiert, was die Bedingungen des Gelingens und Misslingens sozialen Handelns sind. Die Frage, ob dahinter ein moralischer Impetus liege, lässt ihn antworten:
«Wenn mir das nicht wichtig wäre, würde ich mich mit der Beschreibung eines exotischen Stammes zufriedengeben oder mich mit theoretischen Klärungen beschäftigen, anstatt mit dem Sozialstaat, der Familie oder der Kirche.»
Blick auf gesellschaftliche Dimension von Religion und Kirche
Wenn Soziologie Aufklärung über das Zusammenleben von Menschen ist, kommt die gesellschaftliche Dimension von Religion und Kirche als sozialer Institution in ihren Blick: Kaufmann fragt nach ihrer geschichtlichen und kulturellen Ausprägung, dem Zusammenhang von kirchlichem Bewusstsein und gesellschaftlichen Wertungen – und zeigt eben auch die strukturellen Voraussetzungen kirchlicher Fehlleistung auf: Zentralismus, monokratisches Selbstverständnis, Klerikalismus, Mangel an Rechtssicherheit sind Stichworte.
Der Glaube ist ihm eine Position, die es möglich macht, kritisch auf die Welt zu blicken. Er hilft ihm zu erkennen, dass man mit dem Prinzip einer auf blossen Eigennutz ausgerichteten Freiheit keine Kultur aufbauen kann, die menschenwürdig ist und auch Schwache einschliesst. «Brüderlichkeit» oder Geschwisterlichkeit ist ein zentrales Stichwort für ihn, ein urchristlicher Wert, der in der modernen Gesellschaft, aber auch in einer bürgerlich-christlichen Kirche nicht mehr leitend ist – und doch seine Faszination für ihn bewahrt. Begründet ist er im Gottesglauben und in der Botschaft Jesu.
Die Brüder Kaufmann und das Konzil
Wissenschaftlich mit dem Thema Religion, Theologie und Kirche hat sich Kaufmann erst unter dem Einfluss des Konzils beschäftigt. Sein Bruder, der Jesuit Ludwig Kaufmann, der als gefürchteter Konzilsberichterstatter in Rom mit listiger Unschuldsmiene die Fragen stellte, die keiner beantworten wollte, war da sicher auch Wegbegleiter.
Im Vorwort zur ersten Veröffentlichung zum Thema «Theologie in soziologischer Sicht» gab er seine konkrete Absicht zu erkennen: Kirche von überflüssigem und einengendem Beiwerk der Tradition befreien. Eine klare Ansage und ein hoher Anspruch. Und unter den zahlreichen deutschen Lesern mögen die einen dahinter Schweizer Aufmüpfigkeit, andere das Wirken des Heiligen Geistes gespürt haben.
Evangelium als Kompass
Die Krise der Kirche tritt in der sich säkularisierenden Gesellschaft immer deutlicher hervor. «Wie überlebt das Christentum?», so der Titel einer Publikation. Ob und wie menschlicher Glaube zukunftsfähig sein kann – ist eine Frage, auf die manche von einem Wissenschaftler wie ihm Antwort erhofften. Seine Antwort: Die Frage «Wie wird menschlich unser Glaube zukunftsfähig?» sei falsch gestellt. Sie suggeriere eine Antwort in der Form menschlicher, wissenschaftlich aufgeklärter Vernunft. Als Wissenschaftler sagt er dazu nur: «Kein Anschluss unter dieser Nummer!» Aber einen Kompass hat er doch. Er beschreibt die Krisensymptome radikal und nüchtern, verweigert sich optimistischen Prognosen. Aber setzt als glaubender Mensch auf die Kraft des Evangeliums.
Das ist ihm wichtig: Hören auf den «den Klang des Evangeliums», wo auch immer er wahrnehmbar ist. Von den Kirchen fordert er, dass sie die grundlegenden Botschaften Jesu im kollektiven Gedächtnis der sich globalisierenden Menschheit lebendig halten. Und als Überzeugung bekennt er, der Bezug auf Gott sei die zentrale Frage, wenn es um die Zukunft des Christentums geht. Aber auch:
«Das Christentum ist eine Antwort auf die Frage nach Gott. Eine Antwort.»
Beeindruckend bei alldem ist die Bereitschaft zur persönlichen Aussage. Auch mit dem Thema Alter hat er sich nicht nur wissenschaftlich auseinandergesetzt. Ebenso mutig, wie ungewöhnlich: dass er – nahezu 90, mit der Sorge um seine pflegebedürftige Frau beschäftigt, von chronischen Krankheiten geplagt und im existentiellen Wissen darum, wie Polymorbidität sich anfühlt – ganz persönlich und offen darüber schreibt, Erfahrungen und Einsichten teilt und einordnet («Vom Altwerden», in: Älterwerden – wie geht das? 2022). Aber auch da letzten Fragen nicht ausweicht, selbst wenn es nur vorläufige Antworten gibt:
«Und wenn die Schmerzen überhandnehmen, so lege ich mich hin und versuche, auf andere Gedanken zu kommen, häufig durch ein Gebet.» Und er bekennt sogar die Vorstellung von einer Gottesbegegnung im Augenblick des Sterbens. Nicht ohne hinzuzufügen: «Allerdings: Ignoramus et Ignorabimus.» («Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen» Ein Zitat des Physiologen Du Bois-Reymond)
Ein Leben im Spannungsfeld von Wissenschaft und Glaube
Seine Existenz als Wissenschaftler und sein Weg als Christ – sie lassen sich nicht trennen: «Der Ort dieses Zwischen ist meine Person.» Integrität eines Lebens ist etwas sehr Persönliches. Sie definiert sich durch die Kohärenz von Leben und Tun. Max Weber hat gesagt, der Wissenschaftler sei nur Wegweiser, er müsse sich nicht ins Ziel bewegen. Kaufmann selber dagegen hat auf die Frage, was wichtig sei im Leben, das Bild des Weges anders gebraucht: Wichtig sei der Mut, in der Spur dessen zu bleiben, was man für gut befindet. Das sei etwas, «das trägt», sagt er: «Vielleicht sogar bis zur Ahnung Gottes.»
Er selber hat sich immer als lebendiger Teil des lebendigen Feldes gesehen, das er beobachtet hat. Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Glauben blieb er bewegt von der Suche danach, was für ein Gemeinwesen gut ist. Aber auch für das, was ein Leben trägt. «Integrität als Tugend»: Das könnte über diesem 90-jährigen Leben und seinen Suchbewegungen stehen. In diesem Sinn ist dieser bedeutende katholische Intellektuelle mehr als nur statischer Wegweiser. Sondern jemand, an dessen Haltung man sich orientieren kann.
Der Autor Rudolf Walter, Philosoph, Theologe und Publizist, lebt in Freiburg i. Br. Als langjähriger Cheflektor des Herderverlags, betreute er die Publikation zahlreicher Werke von Franz-Xaver Kaufmann, unter anderem hatte er auch die Schriftleitung für die 37-bändige Enzyklopädie «Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft» inne. – Im Herbst erscheint in der Edition Exodus von Kaufmann das Buch: Katholische Kirchenkritik. «… man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!» (Luzern 2022).
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