Kirche aktuell

Filmpreis der Zürcher Kirchen 2022 «Foudre», ein Film, der nachhallt

Mit ihrem Spielfilmdebüt «Foudre» komponiert die Genfer Regisseurin Carmen Jaquier (37) ein Meisterwerk, das bei den Zuschauern noch lange nachklingt. Der Gewinnerfilm des Filmpreises der Kirchen ist eine sinnliche und mutige Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau im Jahr 1900.
30. September 2022 Katholische Kirche im Kanton Zürich

Ihre Augen nehmen die Risse in den Mauern der Kirche in ihrer gesamten Länge wahr, ihre Welt steht Kopf, als die 17-jährige Elisabeth gegen ihren Willen aus dem Kloster getragen wird. Sie soll zum Arbeiten zu ihrer Familie zurückkehren, die den Tod der ältesten Tochter beklagt. Der Siegerfilm «Foudre» läuft an, ein Walliser Bergdorf im Jahr 1900. In den wortkargen und beschwerlichen Alltag der Bauernfamilie dringen düstere Beschwörungen über den Teufel, der die Seele der spirituell erwachten, sexuell überaktiven Schwester Innocente geholt haben soll.

In den Sog derselben alles verschlingenden Obsession gerät auch die unbequeme Elisabeth, in der doch eigentlich nur ein unbändiger Drang nach naturnaher Schönheit, Gottesnähe und Reinheit lodert. Doch der Fund des schwesterlichen Tagebuchs und das hartnäckige Forschen nach der Wahrheit über den Tod von Innocente entladen in ihr
Blitze – «Foudres» – von unkontrollierbarer Wucht. Die vermeintliche Befreiung vom einengend-bigotten Korsett des stockkonservativen Sozialgefüges treibt sie durch ein mystisch-kultisches Fegefeuer unaufhaltsam in die Selbstzerstörung. Die bildgewaltig in eine archaische Bergwelt gepflanzte Allegorie vom Scheitern der zur marienhaften Reinheit verdammten Frauen führt im Kreis, indem am Grab Elisabeths auch die nächstjüngere Schwester ihre sexuelle Bereitschaft andeutet. Bleibt die vierte Schwester, noch kindlich unschuldig. Die ineinander fliessenden Identitäten der Frauen stehen für wiederholt im Keim erstickte Aufbrüche, die sisyphusartig in Scheitern, Destruktion und Tod enden.

Dass es in diesem abgründigen Mysterienspiel aus dem Labyrinth des Schuldkults kein Entrinnen gibt und jede echte Befreiung aus innerlicher und äusserlicher Gefangenschaft misslingt, lässt Zuschauende etwas verwirrt zurück. Emanzipation ohne wirkliche Reife? Überbordernder Eros ohne empathische Agape? Befreiung durch neue Obsessionen? Was denn von ihrem ersten langen Spielfilm bleiben solle, fragte Moderatorin Nicole Freudiger die Genfer Regisseurin Carmen Jaquier vor der Vorführung. Die 37-jährige Westschweizerin sagte, sie spreche in ihrem Film von menschlichem Verlangen und Glauben, die nicht von aussen aufgedrängt werden dürften. Es sei wichtig, Aggression und Unterdrückung zu thematisieren. Sie selbst habe Spiritualität ausserhalb der Kirche gesucht und dabei erkannt, wie viele Fragen an Spiritualität geknüpft seien. So zeigt sich in «Foudre» die Schöpfungskraft in grosser Schönheit, die die eindrücklich geführte Kamera aus unerwarteten Perspektiven einfängt, indem hier ein menschliches Auge und dort eine Ameise im Grossformat die gesamte Bildfläche füllen.

Aussergewöhnliche filmische Arbeit

Mit ihren bildgewaltigen Aufnahmen und den kargen Dialogen habe sie die Angst der Menschen vor den Bergen dargestellt, fern jeder Postkartenromantik, sagte Carmen Jaquier weiter. Sie hat sich für ihr Werk von den Tagebüchern ihrer fromm-spirituellen Urgrossmutter inspirieren lassen, dazu vom Roman «Theoda» von Corinna Bille aus dem Jahr 1944, der eine leidenschaftliche Liebe bis zu ihrem bitteren Ende aufzeichnet, und vom Buch «La poudre de sourire» mit Aufzeichnungen der Weberin Marie Métrailler aus dem Dorf Evolène.

Die richtige Dosierung von existenziellen Fragen auf der Suche nach einem erfüllten Leben habe die Jury überzeugt, sagte deren Präsident Tobias Grimbacher. Die filmische Arbeit mit fesselnden Bildern sei aussergewöhnlich, sagte auch Jurorin Fiona Ziegler in ihrer Laudatio. «Foudre» gelinge es, eine ästhetisch-sinnliche Verbindung von Sexualität und Spiritualität herzustellen und sich an eine Gotteserfahrung heranzutasten. Er zeige, wie nahe Schmerz und Lust seien und er sei mit Lilith Grasmug und weiteren Darstellerinnen grossartig besetzt. Zuschauende dürften den «Film fühlen, bevor sie ihn verstehen», sagte sie.

«Das Urteilen ist gleich geblieben»

Dass im Kino nicht nur die rationale Ebene angesprochen werde, hielt auch Festredner Samir fest. Im Dunkeln in ein Geschehen einzutauchen und Lichtflecken auf der Leinwand zu sehen, komme einem intuitiven Zustand der Transzendenz gleich, sagte der Filmemacher, der davon erzählte, wie er aufgrund der Anfrage von Seiten der Kirche seine eigenen Filme und danach sogar seine Biografie auf Bezüge zu Religiosität abgeklopft habe. Er ortete eine Analogie zwischen Gotteshaus und Kino und mutmasste: «Vielleicht gibt es Kino nur, weil es vorher Religion gab.»

Auch Felix E. Müller, Präsident des ZFF, erklärte in seinem Grusswort Religion zu einem der grossen Themen der westlichen Gesellschaft. Die Kirchen behaupteten ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft, sagte er. Und Kirchenratspräsident Michel Müller bekräftigte, der Beitrag der Kirchen zur Gesellschaft sei nicht verurteilend, vielmehr böten die Kirchen einen Diskussionsraum zum Austausch.

Das Urteil von Regisseurin Carmen Jaquier diesbezüglich war demgegenüber ernüchternd: «An der Haltung, andere und andersdenkende Menschen zu verurteilen, hat sich seit dem Jahr 1900 nicht viel verändert. Die Zeit ist heute eine andere, aber das Urteilen ist gleich geblieben. Wir sind nicht weit weg von den damaligen Menschen.» Auch die Risse in den Kirchenmauern dürften für Elisabeth-Versteher noch sichtbar sein.

 

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Text: Madeleine Stäubli-Roduner, Pressearbeit Reformierte Kirche Kanton Zürich