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Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt Er verteidigt die Demokratie als Bürger und als Christ

Rechtsextremisten bedrohen die Demokratie in Deutschland. Dagegen gehen vermehrt Bürgerinnen und Bürger auf die Strasse. Unter ihnen auch Johannes zu Eltz, Stadtdekan in Frankfurt am Main. Eine profilierte Stimme zur Lage in Deutschland und in der Kirche.
13. Mai 2024 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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In Deutschland gehen gerade viele für die Demokratie auf die Strasse. Was passiert da gesellschaftlich?

Johannes zu Eltz: Ich glaube, der grosse Bevölkerungsanteil, den man schweigende Mehrheit nannte, lässt sich langsam dazu bewegen, aus der Lethargie und der Haltung des Abwartens herauszukommen und interessiert sich öffentlich für das, was aus der deutschen Gesellschaft und aus dem Staat wird.

Was ist es denn, was die Menschen derart bewegt?

Den Ausschlag hat wohl die Vorstellung gegeben, man könnte – mit schönen Worten bemäntelt – einen erheblichen Teil der Bevölkerung aus Deutschland rausmobben und vertreiben, ja deportieren. Was genau bei bei diesem Geheimtreffen von Rechtsextremen in Potsdam gesagt wurde, weiss ich nicht. Jedenfalls hat der Hinweis, dass Menschen zu mehreren und konzentriert über Deportation nachdenken, einen Unterschied gemacht.

Können die Proteste den Rechtsruck stoppen?

Ich denke, die Proteste können einiges, aber unter bestimmten Voraussetzungen. Die wichtigste ist, dass die Basis derer nicht zu klein ist, die sich jetzt auf der Strasse dem Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus entgegenstellen wollen. Die Basis ansprechbarer und erregbarer Leute muss unbedingt vom linksliberalen Spektrum hinüber reichen ins ganz weit konservative, unpolitische «Normalbürgertum». Sonst wird das nichts mit dem Protest.

Die Bewegung ist gegenwärtig aber noch nicht dort.

Nein. Man muss etwas dafür tun, dass es in diese Richtung geht. Es gibt Selbstgenügsamkeit und Selbstgefälligkeit bei den Organisatoren solcher Demonstrationen. Es gibt auch einen erheblichen Widerwillen gegen die Neuaufstellung der CDU. Aber, parteipolitisch gesagt: Ohne die CDU in ihren ganz grossen Teilen ist nicht zu machen, was da versucht wird – davon bin ich überzeugt. Ich habe auch öffentlich dafür gesprochen: dass man nicht «gegen Rechts» mobil macht, sondern gegen Rechtsextremisten und Rechtsradikale.

Sie sagten, die Proteste könnten «einiges». Was erwarten Sie?

Demonstrationen in der Art, wie wir sie hier in Frankfurt hatten, mit doch einigen 10 000 Menschen sowie ihr mediales Echo dienen – so wie ich es sehe – der Selbstvergewisserung derer, die sich selbst in die Mitte der Gesellschaft stellen möchten. Von diesem mittleren Standpunkt aus und von dem, was dort gesagt werden kann, was die Bandbreite an vertretbaren Meinungen ist – und was nicht mehr in diesem Spektrum liegt – von dort aus organisiert sich dann die Wahrnehmung davon, was Mitte und was Rand ist.

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Johannes zu Eltz. Foto: Rolf Oeser

Das kommt spät. Denn es läuft seit langen Jahren ein erfolgreicher Versuch der rechten Denkfabriken, unauffällig die Grenze des Sagbaren immer weiter in die Mitte hineinzuschieben und immer mehr Dinge, die tabuisiert waren – vor allem aus dem ideologisch-völkischen Bereich – anhörbar zu machen. Jene, die dieses Gedankengut eigentlich nicht teilen, gewöhnen sich dann allmählich daran, dass es doch auch irgendwie normal ist, so zu denken. Das ist ein erfolgreicher Versuch, der schon länger unternommen wird, und ich finde, dem kann öffentliche Erregung etwas entgegenstellen.

An der Demonstration in Frankfurt, an der rund 20 000 Menschen waren, haben Sie für das Römerbergbündnis gesprochen. Welche Rolle sehen Sie für sich als Kirchenmann im demokratischen Prozess?

Vor allem hier in Frankfurt in den letzten 14 Jahren bin ich dazu gekommen, die Bedeutung des kirchlichen, auch des katholischen Einsatzes für die säkulare Demokratie, ihre Gesetze und Bedingungen viel höher zu veranschlagen, als ich das früher getan habe. Ich halte es für nötig, dass wir uns positionieren, auch auf Kosten einer allseitigen Ausgewogenheit. Wir können nicht degagiert und distanziert auf das gesellschaftliche Geschehen schauen, sondern wir müssen merken, dass die Lebensbedingungen von Kirche mit einer freiheitlichen Demokratie steigen und fallen.

Heisst das, auch Sie persönlich sind angesichts der Entwicklungen «aufgewacht»?

Ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich mich in den letzten Jahren gewandelt habe. Durch die Beschäftigung mit dem Evangelium, das einen ja mit der Zeit imprägniert und durchtränkt, wird mir immer deutlicher, dass es keine christlichen Kompromisse mit einem völkisch-biologistischem Nationalismus geben kann. Meiner Generation hat man noch gelehrt, aus dem Erleben unserer Eltern heraus, dass man vor den linken Extremen Angst haben muss. Im Gegenteil, man muss wegen ihrer Menschenfeindlichkeit vor dem ideologischen Rechtsextremismus Angst haben. Er ist es, der jene Gesellschaft bedroht, in der sich das Reich Gottes weiter entwickeln kann. Das hätte ich früher so nicht gedacht und so auch nicht gesagt.

Sie haben an der Demonstration über Dialog gesprochen und über einen verhältnismässigen Umgang miteinander, Sie haben aber auch von einer roten Linie gesprochen: «Die rote Linie ist abstrakte, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und die Entschlossenheit zum Staatsstreich». Was muss passieren, wenn Menschen auf diese rote Linie zumarschieren?

Wenn sie auf diese zumarschieren oder sich hindrängen lassen, oder wenn diese rote Linie ihnen gleichsam entgegenkommt – das ist das, was ich vorher versucht habe, zu beschreiben: Durch die unauffällige Verschiebung der Grenzen politischen Anstands kann es dann nur wie ein ganz kleiner Schritt erscheinen, einfach nochmals ein bisschen weiter zu gehen und sich weiter auszuprobieren … wenn also all das geschieht, kann man in einer Demokratie eigentlich nicht viel mehr machen, als aufzuklären, bewusst zu machen, zu appellieren, zu bitten. Die Demokratie lässt sich ja nur mit ihren eigenen, ihr gemässen Mitteln verteidigen, und da ist das wichtigste und vornehmste die Aufklärung. Und da möchte ich mich zumindest klar einbringen. Natürlich, der Staat hat mit seinen Mitteln der Strafverfolgung nochmals andere Verpflichtungen und Möglichkeiten, wenn Menschen auf diese rote Linie zulaufen. Eines ist mir auch sehr bewusst: Wir müssen jedenfalls mit einem Anteil von rechtsextremem Gedankengut in den Kirchengemeinden rechnen, der nicht kleiner ist als jener in der Normalbevölkerung.

Heisst das etwas für Ihre Predigt?

Ja. Zunächst möchte ich nicht gerne die Predigt für eine politische Aufklärungskampagne nutzbar machen, das fände ich missbräuchlich. Ich versuche schon, das Evangelium auszulegen, wie es sich darbietet. Aber: Ich muss nie lange suchen in den heiligen Texten, um auf die Spuren einer Menschenrechtsorientierung, einer universalistischen Denkweise, eines humanistischen Grundverständnisses zu kommen – das sind zwar alles nicht die Worte der Bibel, aber es ist die Sache der Bibel. Und auch zu biblischen Zeiten und in ihren Kontexten gab es offenbar Konflikte zwischen einem gruppenbezogenen Denken, das scharf macht gegen andere Gruppen und übergreifenden Anschauungen, in einer Menschheitsfamilie zu denken. Das gibt es also auch in der Bibel, die Spuren dieser Auseinandersetzung kann man verfolgen.

Bei ihrer Vollversammlung im Februar erklärte die Deutsche Bischofskonferenz: «Rechtsextreme Parteien und solche, die am Rande dieser Ideologie wuchern, können für Christinnen und Christen kein Ort ihrer politischen Betätigung sein und sind auch nicht wählbar.» Das ist eine klare Distanzierung. Klar genug?

Ich bin ein bisschen zusammengezuckt bei der Erklärung der Nicht-Wählbarkeit der AfD, weil bischöfliche Wahlvorgaben bei uns in Deutschland eine lange Geschichte haben und wir das eigentlich hinter uns haben. Jemandem, der wegen dieser Erklärung aus der Kirche ausgetreten ist, habe ich geschrieben, dass ich finde, die AfD müsste verboten werden wegen ihrer Verfassungsfeindlichkeit. Da bin ich klar. Ich finde, die Bischöfe müssen völkischen Nationalismus als Sünde markieren, auch öffentlich. Aber die Schlussfolgerungen aus solchen grundsätzlichen Positionen würde ich mir gerne selbst vorbehalten. Ich ziehe lieber selbst die Schlüsse aus grundsätzlichen Überzeugungen, als das ich mir diese vorgeben lasse.

Allerdings nehme ich wahr, dass sich viele aus meinem kirchlichen Umfeld diesbezüglich anders aufstellen. Sie sind sehr dankbar und froh über die Entschiedenheit der Bischöfe, mit der sie sich hier öffentlich geäussert haben, auch mit einer Unwählbarkeitsformulierung. Ich denke, in Deutschland schwingt immer auch im Hintergrund eines mit, nämlich das kabinettspolitische, liebedienerische und übervorsichtige Verhalten der deutschen Bischöfe beim Aufkommen des Nationalsozialismus und in der Zeit seines inneren Aufbaus in den 1930ern.

Diesen Fehler möchten die Bischöfe gewissermassen nicht noch einmal machen?

Ich denke, das hat bei den Bischöfen eine Rolle gespielt und ich verstehe das auch. Denn in der Rückschau betrachtet war das schmählich, was damals gemacht wurde, auch, wie soll ich sagen, lächerlich …

… oder feige …

… vielleicht auch feige. Allerdings gab es damals ja unheimlich viel Vertrauen in die grundsätzliche Anständigkeit von Staat. Man muss das also schon aus den Denk- und Empfindungsvoraussetzungen jener Jahre begreifen.

Würden Sie sagen, dass die Bischöfe in diesem Punkt aus der Geschichte gelernt haben?

Das haben sie und ich glaube, dass die Bischöfe über all ihre Meinungsverschiedenheit hinweg ein lebendiges Empfinden dafür haben, wie verletzlich das Gebilde einer parlamentarischen Demokratie ist und wie leicht aus dem Tritt zu bringen, und wie wenig es braucht, um die Demokratie in der Bevölkerung zu delegitimieren. Genau in diesem Geschäft ist die AfD mit viel List und Tücke seit langem tätig. Natürlich trägt sie ihre umstürzlerischen Seiten nicht nach vorne, sondern lässt diese eher im Hintergrund wirken.

Wie explizit kann, soll, muss sich also Kirche von einzelnen Gruppierungen und Parteien distanzieren, wenn diese verfassungswidrig reden und handeln?

Ich beginne beim Humor: Vor langen Jahren hat, wenn ich mich recht erinnere, der Kardinalerzbischof von Köln gesagt, Grüne seien für Katholiken nicht wählbar. Da antwortet ein frecher Grüner, allerdings mit Verständnis für die katholischen Kirche: Bischöfe sind für Katholiken auch nicht wählbar. Was ich sagen möchte: Bischöfe müssen sich hüten, den Gestus von unbewegten Bewegern, von tadellosen Lehrpersonen einzunehmen, auf deren Beiträge man nur gewartet hat. Der moralische Kredit der Bischöfe in Deutschland ist nicht sehr gross. Auch bei solchen öffentlichen Statements gegen Rechts sollte das Empfinden für die eigene Fehlbarkeit immer mitschwingen, damit man auch in der Kirche Rücksicht nimmt auf die Empfindungen derer, die sich nicht herumschubsen und kujonieren lassen wollen. Alles das gesagt habend, finde ich die Entscheidung der Bischofskonferenz, sich einstimmig so klar gegen die AfD abzugrenzen, bemerkenswert. Und ich will sie auch öffentlich vertreten, auch wenn ich Bedenken habe.

Was sagen Sie konkret gegenüber der AfD?

Ich glaube, dass das Völkische eine Vielheit von Gedanken und Überzeugungen zusammenfasst, die das Zeug hat, Religion zu ersetzen. Die Vergötzung der Nation ist ein Bruch des ersten Gebotes und ist eine schwere Sünde, die sich nicht entschuldigen lässt. Sie bringt das Leben des Menschen und seiner Gesellschaft zum Schlechten hin. Aus der geschichtlichen Erfahrung lässt sich sagen: Das Völkische taugt, um Gläubige zu erzeugen. Und da muss eine Glaubensgemeinschaft mit einem Offenbarungswissen, wer Gott ist und wer er nicht ist, öffentlich etwas dazu sagen.

Was ist hierbei die Rolle von Religionsgemeinschaften?

So allgemein könnte ich das nicht sagen, ich kann es nur für die Rolle der Christen in einer Demokratie sagen: Die Freiheit, zu der uns Christus befreit hat – auch die Freiheit von jenen, die von ihm nichts wissen oder nichts wissen wollen – diese Freiheit muss verteidigt werden, mit allen Kräften.

Sie sprechen jetzt von einer realpolitischen Freiheit?

Ja. Die gesellschaftliche Freiheit hat im Grundgesetz einen für deutsche Verhältnisse aussergewöhnlichen Ausdruck gefunden. Mein Postulat geht direkt über in einen Verfassungspatriotismus, der das Grundgesetz verteidigt, das jetzt 75 Jahre alt wird, und der alles dafür tut, dass wir weiter unter seinen Bedingungen leben können. Das würde ich für eine Christenpflicht halten, nicht nur für eine Bürgerpflicht von Menschen, die bei Gelegenheit ihres Bürgertums auch noch Christen sind.

Die deutschen Bischöfe haben sich in der zitierten Erklärung also klar zur demokratischen Grundordnung im Staat bekannt. Wie glaubwürdig ist das, wenn die eigene Institution nicht demokratisch organisiert ist?

Es war früher glaubwürdiger als jetzt. Die Spannung wurde immer mitgedacht und ertragen, dass der Mensch «idem cives et christianus» sei, zugleich Katholik in seiner hierarchisch verfassten Kirche und Demokrat in seinem Staat des Grundgesetzes. Das liess sich früher leichter zusammen vorstellen. Gegenwärtig gerät die Plausibilität der gesellschaftlichen Verfassung der Kirche immer stärker in Misskredit. Das Misstrauen ist viel grösser geworden, ob man sich von jenen, die so eine Verfassung aufrechterhalten und von ihr als Elite profitieren, etwas sagen lassen muss über gesellschaftliche Zustände. Ich sehe in der Notwendigkeit, dass Christen die Ordnung des Grundgesetzes verteidigen, einen weiteren Impuls dafür, dass es nötig ist, unsere kirchliche Verfassung in ein gesundes und erträgliches Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Ordnung zu bringen. Ich sage damit zugleich, dass das jetzige nicht mehr gut erträglich ist und dazu beiträgt, dass die Kirche herausfällt beziehungsweise sich exkulturiert. Die Kirche kann mit ihrer gegenwärtigen Verfassung keinen Beitrag mehr zur Bürgergesellschaft leisten, der als vernünftig und legitim empfunden wird.

Was müsste als erstes passieren, um die Verfassung der Kirche ins heute zu holen?

Der wichtigste Impuls kam nach dem zweiten Vatikanischen Konzil unter dem Stichwort «lex ecclesiae fundamentalis». Dieses hätte für eine Herrschaft des Rechts gesorgt, nicht in der Glaubensgemeinschaft mit ihrem nicht verhandelbaren Offenbarungsglauben, wohl aber in der gesellschaftlichen Organisation, die die Kirche ja immer auch ist. Sie hätte für eine Herrschaft des Rechts gesorgt, indem es die Inhaber von machtvollen Ämtern grundsätzlich rechenschaftspflichtig gemacht hätte. Ich würde sagen, das ist der Grundimpuls von rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnungen, dass es keine absolutistische Machtausübung geben kann. Diese haben wir aber. Leider ist dieser Impuls gescheitert, vor allem an Papst Johannes Paul II.

Und nun?

Ein erreichbares Ziel wäre die Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, die das Verwaltungshandeln von Amtsträgern nachprüfbar und korrigierbar macht. Erreichbar ist das Ziel durch die Selbstbindung von Bischöfen, ohne dass man das Grundgesetz, den Codex Iuris Canonici, ändert.

Sie meinen eine kircheninterne Verwaltungsgerichtsbarkeit?

Ja. Allerdings wäre sie den Bischöfen gegenüber unabhängig. Auch der Bischof und jene, die für ihn beziehungsweise an seiner Stelle handeln, wären dann der Herrschaft des Rechts unterworfen, das sie ja selbst erlassen dürfen, an das sie sich dann aber auch halten müssten. Das ist, würde ich sagen, ein entscheidender Unterschied zwischen einer totalitären und einer demokratischen Ordnung. Das könnten wir in unserer Kirchenverfassung neu abbilden.

Wäre das eine grundlegende Neuerung, oder wäre das eine neben anderen?

Auf dieser Basis – also nach der Beseitigung des Absolutismus und der Einführung von Gewaltenteilung in der Kirche – liessen sich viele andere Missstände abbauen.

Wer sollte diese Neuerung umsetzen? Der Papst als oberster Monarch? Oder jeder Bischof für sich und sein Bistum?

Theoretisch am besten könnte das der Papst mit einem dritten Vatikanischen oder sonst wo stattfindenden Konzil, weil die Kirche ihre Ordnung schon sehr festgezurrt hat gegen Veränderung. Praktisch und politisch gedacht halte ich am meisten von Versuchen innerhalb eines Bistums oder einer Bistumsgruppe. Wenn sich Diözesanbischöfe mit ihrer Gesetzgebungsbefugnis darauf verständigen, innerhalb ihrer eigenen Bistumsgrenzen durch Selbstbindung Zustände herzustellen, in denen sie ihre Macht dafür einsetzen, ihre eigene Macht zu brechen. Das ist ein anspruchsvolles Unternehmen. Ich halte es auf weltkirchlicher Ebene und insgesamt für die ganze katholische Kirche im Moment für illusorisch, und in einzelnen Bistümern oder Bistumsgruppen für machbar.

Der «Synodale Weg» in Deutschland war ein ambitioniertes Reformprojekt. Viele Menschen wollen weitergehen, einige Bischöfe auch, andere nicht. Der Papst bremst. Und nun?

Dass der synodale Ausschuss von der römischen Zentrale nicht beachtet worden ist, weil er offenbar nicht verstanden worden ist – das hat mich gewundert. Ich dachte, so blöd können die doch eigentlich gar nicht sein, dass sie nicht merken, was der synodale Ausschuss alles kann! Jetzt haben sie es doch gemerkt.

Ich glaube, dass eine vollständige Deckungsgleichheit zwischen römischen Vorgaben und dem Anspruch, auf dem synodalen Weg weiterzugehen, nicht herstellbar ist und dass weiterhin begrenzte Konflikte riskiert werden müssen. Die Einheit der Kirche ist fundamental wichtig, aber: Man darf nicht vergessen, dass sie durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte auch schon weitgehend verloren gegangen ist, und dass es nicht so ist, dass sie jetzt plötzlich verloren gehen könnte, wenn man mit dem deutschen synodalen Weg weitermacht. Wir haben ja faktisch schon zigtausende abgespalten, die nicht mehr mitgehen möchten und mitgehen können. Ein wichtiger Grund für ihr Aussteigen ist die unreformierte, vormoderne Verfassung der Kirche.

Konkret meinen Sie also, man müsse zukünftig ein gewisses Mass an diplomatischen Verhandlungen, Gesprächen, auch an Auseinandersetzungen mit dem Vatikan pflegen – vielleicht sogar kultivieren?

Genau, immer Gespräche. Vielleicht auch noch geschickter und noch mehr als bisher, und mit noch mehr Verständnis für die römische Mentalität. Dieses Verständnis ist bei uns nicht immer so ausgeprägt. Auch dazu gehören würde noch mehr Bereitschaft der Bischöfe, einfach das umzusetzen, was man – gut beraten mit den eigenen Gläubigen – für richtig hält. Davon geht die Einheit der Kirche nicht so schnell kaputt, Bistümer werden nicht exkommuniziert werden, das sind Horrorszenarien. In Wirklichkeit glaube ich, dass das System insgesamt viel mehr an Unterschiedlichkeit verträgt, als es jetzt den Anschein hat.

Woher kommt dieser Anschein?

Wir stehen unter dem Eindruck von 150 Jahren ultramontaner Kirchengeschichte, die uns glauben macht, es könne überhaupt nicht anders gehen, als es jetzt ist: als wäre die Gewichtsverteilung gottgegeben oder von Jesus persönlich eingeführt. Das stimmt aber alles gar nicht.

Von meinen familiären Voraussetzungen her habe ich innerlich Zugang zu Zuständen der Kirche, wie sie vor dem 19. Jahrhundert gewesen sind. Die Bischöfe der Reichskirche hätten nicht im Traum daran gedacht, sich herumschicken zu lassen, wie es die Bischöfe nach dem ersten Vatikanischen Konzil dann angefangen haben, mit sich machen zu lassen. Wir haben also subversive Erinnerungen – oder wir könnten sie haben: dass es nämlich ganz anders möglich ist in derselben katholischen Kirche, die immer wieder ihre Formen ändert. Das wäre für mich ein wichtiger Beitrag zur gegenwärtigen Auseinandersetzung: immer wieder klug und faktenbasiert die Zeitbedingtheit der jetzigen kirchlichen Ordnung öffentlich zu machen.

Warum setzen Bischöfe und Papst Reformen, wenn überhaupt, nur derart zögerlich um?

Weil es eine in das System eingebaute List ist, solche Menschen ins Bischofsamt zu befördern, die die Bedingungen des Systems reproduzieren und nicht in Frage stellen. Manchmal geht das schief: dann kriegt man solche, die brav gewirkt haben, bevor sie ernannt wurden – und nachher mit der Hilfe des Heiligen Geistes und ihrer Gläubigen zu ganz anderen Erkenntnissen kommen. Das gibt es. Aber in der Regel haut das hin: Es werden intelligente, leistungsbereite, brave, angepasste, ängstliche, formbare Männer ins Bischofsamt expediert, damit sie dort gewährleisten, dass sich nichts grundsätzlich ändert an der Verfassung.

Welche Bischöfe im deutschsprachigen Raum würden Sie eher der ersten Kategorie zuordnen?

Ich würde über jene, die ich so wahrnehme, nicht öffentlich sprechen. Allerdings finde ich unseren Bischof Georg Bätzing in seiner prominenten Zuständigkeit für die deutsche Bischofskonferenz ein ganz gutes Beispiel: dass man sich nicht so leicht ängstigen lässt und dass man jene Dinge, die man versprochen hat, auch hält, wenn es Druck gibt. Das finde ich ganz gut. Ich wünschte mir, dass es noch ein paar mehr dieser Sorte geben würde. Was ich mir von unseren Bischöfen allerdings auch wünsche, dass sie aktiv etwas tun für die Verständigung mit den Verantwortlichen in der römischen Zentrale. Indem man zum Beispiel ihre Sprache spricht, ihre Gewohnheiten kennenlernt, ihre kulturellen Besonderheiten gut versteht und so mit ihnen auch dann gut umgehen kann, wenn man nicht ein und derselben Meinung ist. Das ist doch alles erlernbar.

Wie würden Sie denn die Kultur im Vatikan beschreiben?

Die germanische und die römische sind zwei verschiedene kulturelle Welten. Das grundlegende Hemmnis, einander richtig zu verstehen liegt darin, dass romanisches Denken und Fühlen sehr gut zurechtkommt mit einem starken Gegensatz zwischen der normativen Ordnung und der gelebten Praxis. Das kriegt man irgendwie auch noch im römisch geprägten Rheinland hin – aber anderswo in Deutschland, mit unseren germanischen Sturköpfen, geht das nicht gut zusammen. Es wird als doppelzüngig, unmoralisch und heuchlerisch empfunden.

Wird es denn nur so empfunden?

Zunächst ja. Man müsste doch auf deutscher Seite anerkennen können, dass sich in diesem römischen Gewährenlassen auf der Ebene der Umsetzung auch viel Toleranz und Menschlichkeit verbirgt – oder wenigstens das Bemühen darum.

Diese Anerkennung könnte sich mit sprachmächtigem, freundlichem, bescheidenem Auftreten verbinden. So gedemütigt die deutsche Kirche ist – wenn da die über 70 deutschen Bischöfe aufmarschieren … dann diese Sprache sprechen, die nicht schön klingt in römischen Ohren … das könnte man besser machen, würde ich sagen.

Haben Sie zu dieser Einschätzung eigene Erfahrungen?

Ich habe in Rom studiert. Ich finde, man kann sich gut zwischen zwei Welten bewegen. Man kann einander verstehen und menschliche Freundschaften pflegen, selbst wenn man in sachlichen Positionen nicht übereinkommt. In dieser Hinsicht ärgere ich mich manchmal. Weil wir so wenig guten Nachwuchs haben, haben wir auch schon lange keine qualifizierten Leute mehr nach Rom in die Ausbildung oder in die Dikasterien entsandt. Solche nämlich, die auf hochstehende Weise deutsche Art und deutsche Positionen vertreten, mit denen ein Brückenschlag möglich wird.

Müsste man nicht eigentlich zuerst von den vatikanischen Verantwortlichen erwarten, dass sie Verständnis für deutsche Stringenz und Ernsthaftigkeit im Befolgen von Vorgaben aufbringen?

Ja. Und jetzt kommt eine Herausforderung aus dem Evangelium: «Wenn du zum Altar gehst, um deine Gabe zu opfern und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann gehe und versöhne dich erst mit deinem Bruder und dann opfere deine Gabe.» Da steht also nicht: Wenn dir einfällt, dass du etwas gegen deinen Bruder hast… diese Zumutung, den ersten Schritt zu machen – das würde ich evangeliumsgemäss finden. Bevor wir bewiesen bekommen, dass die Römer uns schätzen, müssten wir anfangen, sie zu schätzen.

Allerdings scheint mir auf Grund der Hierarchie dennoch mehr Verantwortung in Rom zu liegen.

Ja, absolut. Vor allem, aus einer Position heraus betrachtet, die man als unterlegen empfindet.

Die Position von Bischöfen gegenüber den römischen Behörden ist ja tatsächlich strukturell unterlegen.

Ja? Mein Selbstgefühl ist es nicht. Obwohl ich ein Befehlsempfänger vieler Oberer bin, hätte ich nie das Gefühl, dass die Befehlenden mehr sind als ich oder ich weniger als sie. Deswegen fällt es mir von meinem Grundgefühl her nicht schwer, ihnen entgegenzukommen. Wenn man sich allerdings grundlegend ungerecht eingestuft fühlt, dann ist es fast unmöglich, entgegenkommend zu handeln.

Also eigentlich sagen Sie den Bischöfen: Raus aus der Opferhaltung?

Ja, absolut! Und: Am deutschen Wesen soll die Welt nicht genesen, soll auch die Kirche nicht genesen, aber die deutsche Stimme im Orchester der Kirche ist wichtig. Wir können in Grenzen auch stolz darauf sein und wir müssen uns vor allem nicht von jedem Manöver sofort in die Enge treiben lassen. Das ist ein Spiel, das mit Geduld gespielt werden muss. Dabei gehen uns allerdings ununterbrochen Leute verloren – und deswegen haben viele schlechte Nerven für diese Art von Spiel.

Zurück nach Frankfurt. Es scheint, dass Sie als Stadtdekan bislang Gewicht hatten, gerade auch in gesellschaftspolitischen Fragen. Wie erleben Sie das persönlich: Was macht die Glaubwürdigkeitskrise der Kirche mit Ihrer Rolle in der Gesellschaft?

Ich habe durch die Glaubwürdigkeitskrise der Kirche keine Beeinträchtigung meiner gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten in Frankfurt erfahren. Darin sehe ich ein enormes Entgegenkommen der mich umgebenden Gesellschaft, deren Teil ich auch bin, ich bin ja auch einfach ein Frankfurter Bürger. Daraus erkenne ich, dass es möglich ist, auch unter ungünstigen und abträglichen Bedingungen den kirchlichen Grundauftrag zu vollziehen.

Sie sind seit kurzem nicht mehr Stadtdekan. Im Bistum Limburg wurden auf regionaler Ebene Doppelspitzen in der Leitung eingeführt, die auch von Theologinnen und Theologen im pastoralen Dienst übernommen werden können. Ganz ehrlich: Sind solche kleinen Veränderungen nicht eher Feigenblatt-Politik? Lässt sich damit noch irgendetwas gewinnen?

Alles, was wir jetzt machen, ist zu wenig und zu spät, wir brauchen gar nicht mehr anzufangen. Denn natürlich, der Megatrend ist wirksam, er baut sich nach dem Schneeballprinzip weiter auf – wir brauchen uns also um die Bedingungen unserer gesellschaftlichen Wirksamkeit gar nicht mehr zu kümmern, sie ist sowieso verloren. Da würde ich sagen: Nein, so bitte nicht. Apfelbäumchen pflanzen, wie Luther. Oder wie es Paulus sagt: Hoffnung wider alle Hoffnung(slosigkeit). Das für richtig Erkannte muss auch dann gemacht und umgesetzt werden, wenn die Bedingungen dafür schlecht sind, dass es noch irgendetwas austrägt. Rein schon aus Selbstachtung!

Sie haben mehrfach gesagt, dass Sie die Abschaffung des Stadtdekanenamtes für keine gute Idee halten. Warum eigentlich nicht?

Aus der Erfahrung, die ich in all den Jahren mit dem nicht-kirchlichen Umfeld gewonnen habe. Die Vorstellung, dass jene Leute, die nicht zu Kirche gehören, gerne möchten, dass diese sich demokratisiert, ist einfach zu schlicht. In Wirklichkeit ist die Erwartung der Menschen an uns ambivalenter. Nicht wenige möchten, dass die katholische Kirche, mit der sie persönlich nichts zu tun haben möchten, genauso funktioniert, wie sie sich vorstellen, dass sie funktioniert.

Das würde ja heissen: dass sie so bleibt, wie sie ist.

Die Konstanz reduziert tatsächlich die Komplexität für die Umwelt, die sich dann nicht auf innerkatholische Erneuerungsüberlegungen einzulassen braucht. Ich glaube, das gegenwärtige Grundmuster der Kirche ist mächtig festlegend, und man darf es sich nicht zu leicht vorstellen, die klerikale Grundordnung aufzubrechen und zu sagen, jetzt machen wir es mal anders und wählen Laien in Spitzenämter.

Trotzdem, nachdem ich das alles gesagt habe, unterstütze ich die Einführung der Doppelspitzen. Ich werde mein Bestes dafür tun – wenn es denn gefragt wird, und nicht etwa, ohne dass es gefragt wird. Denn das Schlimmste wäre ein ehemaliger Stadtdekan, der der Doppelspitze andauernd sagt, was zu tun wäre.

Nochmal ein gänzlich anderes Thema: Teilen Sie die Morallehre der Kirche zu Homosexualität?

Unter dem Strich: nein. Über dem Strich allerdings sage ich: Es ist nicht diskriminierend und es ist notwendig, zwischen Sexualitäten zu unterscheiden, von denen die eine grundsätzlich mit biologischer Fruchtbarkeit verbindbar ist und die andere nicht.

In der landläufigen Wahrnehmung hat sich das so vergröbert, dass übrigbleibt: Homosexualität wird als naturrechtswidrig verworfen und homosexuelle Praxis ist immer, unter allen Umständen und in sich schlecht. Das ist auch die Katechismus-Auskunft. Dazu würde ich sagen: Nein, das müssen wir reformieren, das kann so nicht bleiben.

Sie haben sich auch öffentlich für die Gleichberechtigung von Homosexuellen eingesetzt, sagten aber wiederholt, dass Sie keine Paare segnen würden, solange es der Bischof nicht erlaubt. Ist das immer noch Ihre Haltung?

Das ist immer noch meine Haltung. Ich würde homosexuelle Menschen segnen – aber das ist nicht das, was sie möchten. Auch von mir nicht, wenn sie denn kämen. Sondern sie möchten eine kirchliche Segnung, der nichts an Amtlichkeit und Öffentlichkeit und Tageslichtigkeit fehlt. Dazu gehört für mich eine bischöflich approbierte Agenda für solche Segnungen.

Warum?

Weil es sonst am Ende doch das private Entgegenkommen eines einzelnen Priesters ist und das konstituiert für mich nicht Kirchlichkeit. Katholische Kirchlichkeit gibt es ohne bischöfliche Zustimmung nicht. Ich weiss, dass unser Bischof gerne möchte, dass Segnungen für Homosexuelle offiziell erlaubt werden. Er möchte das allerdings nicht allein umsetzen, sondern mit anderen Bistümern – und wenn man mit anderen Bistümern zusammen will, gibt es immer Abstimmungen und so weiter. Ich hoffe, dass es nicht mehr allzu lange dauert.

Welchen Stellenwert haben das persönliche Gewissen und die menschliche Freiheit in so einem Moment, auch für Menschen im pastoralen Dienst?

Dem Urteil eines geprüften und gut gebildeten Gewissens muss man immer gehorchen. Egal, was es einem gebietet. Auf die Gefahr hin, dass man dann mit seinem eigenen Gewissen und in Übereinstimmung mit ihm in die Irre geht – das kann immer sein.

Die subjektive Notwendigkeit, dem Gewissen zu gehorchen, ist seit Thomas von Aquin katholische Lehre. Auf die Frage nach der Segnung von Homosexuellen bezogen: Ein Geistlicher, der es für seine Christen- und Priester- und Pfarrerspflicht hält, in seiner Kirche gleichgeschlechtliche Paare zu segnen, muss das auch tun und darf es in diesem Sinne tun. Das hebt aber die Schwierigkeiten, die ich vorher beschrieben habe – die Beeinträchtigung von Kirchlichkeit durch Individualisierung der Segnungsvorgänge – nicht auf.

Schlussendlich muss man dann auch immer mit einem rechnen: Wenn man seinen Gewissensvorbehalt macht, muss man für seine Gewissensfreiheit mit dem Amt bezahlen können, wenn es darauf ankommt. Wenn mir nämlich meine Gewissenhaftigkeit wirklich wichtig ist, halte ich nicht unter allen Umständen an meinem Amt fest. Ich muss dann auch sagen können: Leute, wenn ihr das zur Bedingung der Ausübung meines Amtes macht, dann will ich es nicht mehr machen.

Text: Veronika Jehle