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Der Staat und die Kirchen

Der Staat und die Kirchen
Seit Jacqueline Fehr als Regierungsrätin auch «Kirchenministerin» ist, hat sich das scheinbare Anhängsel in der Justizdirektion zu einem Thema mit Gewicht entwickelt. Ein Gespräch zwischen den Jahren mit einer Politikerin, die systemische Überlegungen liebt, weil sie lieber versteht als wertet.
31. Dezember 2018 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Frau Fehr, Sie haben von sich selbst einmal gesagt, sie seien eine strenge Lehrerin gewesen. Sind Sie auch eine strenge Justizdirektorin?

Es war für mich als Lehrerin immer wichtig, Verlässlichkeit zu garantieren und dafür auch etwas auszuhalten. Ich wollte einen Rahmen bieten, an dem man sich auch reiben kann. Das ist nur möglich, wenn ich meine eigene Position klar zu erkennen gebe.

Für mich ist das noch heute sehr wichtig. Als Justizdirektorin vertrete ich den Rechtsstaat und seine Institutionen. Dieser Rechtsstaat ist in erster Linie zum Schutz der Schwachen da. Deshalb braucht es verbindliche Regeln, damit sich nicht einfach die Macht des Stärkeren durchsetzt. Das nehme ich heute genauso ernst wie damals als Lehrerin.

Die wenigsten würden sich selber als streng beschreiben.

Ich verstehe darunter Verlässlichkeit. Ich will einen Rahmen setzen, der Freiräume ermöglicht. Räume, in denen man sich verwirklichen kann, gerade weil man sich nicht ständig um den Rahmen zu kümmern braucht.

Strenge, wie ich sie verstehe, bedeutet also weder Machtversessenheit noch Machtmissbrauch. Gerade als Regierungsmitglied muss ich mir dessen immer bewusst bleiben. Diese Macht ist mir anvertraut und an meine Funktion gebunden. Deshalb bin ich verpflichtet, mein Verhältnis zur Macht sehr intensiv zu reflektieren und mir der Grenzen, die es einzuhalten gilt, sehr bewusst zu sein.

Früher galten sie als streitbare Linksaussenpolitikerin, heute werden sie bis weit ins bürgerliche Lager geschätzt. Haben Sie sich verändert oder hat sich das Umfeld verändert?

Beides. Ich fühle mich heute in unserem System viel besser aufgehoben. Früher musste ich um meinen Platz kämpfen. In dieser Hinsicht hat sich meine Laufbahn optimal entwickelt. Vom Parlament, wo das Temperamentvolle, Leidenschaftliche, Kämpferische viel Raum hat, hin zur Regierungsverantwortung, wo mir eher eine Moderations- und Vermittlungsrolle zukommt.

Es hat sich aber auch das Umfeld verändert. Als ich eine junge Politikerin war, da war es noch nicht selbstverständlich, dass eine Frau kämpferisch, selbstbewusst und auch mal laut auftrat. Heute sind Frauen in der Politik viel selbstverständlicher und vielfältiger vertreten. Mein Stil, den ich vor allem früher gepflegt habe, den gibt es immer noch. Aber er ist heute ein Stil unter vielen, der gar nicht mehr weiter auffällt.

 

Sie sprechen immer wieder von Augenmass. Weshalb ist Ihnen dieses so wichtig?

Für meine Direktion bedeutet Augenmass, dass wir uns nicht von jeder Provokation aus der Fassung bringen lassen. Dass wir mit Bedacht reagieren und das breite Instrumentarium, dass uns zur Verfügung steht, geschickt nutzen. Das gilt beispielsweise für das Jugendstrafrecht. Wir dürfen nicht einfach Symbolpolitik machen, sondern müssen uns immer überlegen, welche Massnahmen dazu führen, dass ein junger Mensch tatsächlich den Weg in die Gesellschaft findet.

Da ich selbst nicht operativ arbeite, also beispielsweise keine jugendlichen Straftäter begleite, bedeutet Augenmass in meiner Rolle als Justizdirektorin vor allem eine Haltung, die ich vorgeben und vorleben muss. Diese prägt die Art und Weise, wie wir darüber in unserer Direktion diskutieren, nachdenken, handeln. 

Augenmass und Bedacht – das klingt in Zeiten von Social Media langsam und zurückhaltend.

Ich mahne oft zur Geduld, weil ich der Überzeugung bin, dass Entwicklungen nicht erzwungen werden können. Man kann sie bloss ermöglichen oder mit gezielten Systemirritationen auslösen. Andererseits bin ich selbst oft auch ungeduldig, obwohl ich genau weiss, dass Ungeduld in den seltensten Fällen viel bringt. Ich spüre diese Spannung also an mir selbst und kämpfe damit.

Auf den Umgang mit sozialen Medien übertragen: Sie machen es noch wichtiger, dass ich meine Dossiers beherrsche, dass ich die wichtigen politischen Fragestellungen kenne, dass ich einen Risikoblick für mögliche Entwicklungen habe. Ich muss also viel stärker als früher antizipieren können, weil ich nur dann schnell reagieren kann. Wenn wir rasch wichtige Informationen aufbereiten, den Stand der Dinge erklären und unser weiteres Vorgehen skizzieren können, dann gewinnen wir Zeit. Dann sind wir nicht mehr getrieben und können das Geschäft in der Hand behalten.

Sie fordern aber auch Experimentierfelder in der Politik. Das tönt dann wieder vorwärtsdrängend.

Mit Experimenten können wir Erfahrungsräume schaffen, die uns dann neue Lösungen ermöglichen . Das Ausländerstimmrecht wäre für mich ein solcher Fall. Ich wäre sehr froh, wenn die kantonale Gesetzgebung es den Gemeinden ermöglichen würde, dieses einmal auszuprobieren. Dann würden wir mehr erfahren: Aktiviert sich dadurch das Dorf und die Dorfpolitik? – Führt es zu grundsätzlich anderen Entscheiden? – Wir könnten all das beobachten und wichtige Erfahrungen sammeln.

Und wie bringen Sie Augenmass und Experiment zusammen?

Ich sehe uns als permanent lernende Organisation. Wir werden ständig mit neuen Fragen konfrontiert: Leihmutterschaft, Gentechnologie, Digitalisierung. Die Welt wird immer komplexer. Und da ist Selbstgerechtigkeit eine gefährliche Haltung.

Es gibt ganz viele Fragen, bei denen man ehrlicherweise zugeben muss, dass man dazu nicht von Anfang an eine politische Haltung und Antwort haben kann. Wir müssen deshalb zunächst lernen, damit umzugehen. Wir müssen Erfahrungsräume schaffen. Und wir müssen die gemachten Erfahrungen immer wieder sorgfältig überprüfen und auswerten.

Dieser Lernprozess ist auch bei längst bekannten Themen nie abgeschlossen. Ich habe es sehr geschätzt, dass die AHV-Revisionen früher durchnummeriert wurden. Damit war offensichtlich, dass sich das AHV-Gesetz in einer ständigen Entwicklung befindet und man immer wieder auf neue Herausforderungen reagieren muss.

Sie sind als Regierungsrätin auch für die Beziehungen zu den Kirchen verantwortlich. Gerade dieses Feld bearbeiten Sie sehr intensiv. Das hätten wohl die wenigsten von Ihnen erwartet.

Tatsächlich kam die Orientierung «Staat und Religion im Kanton Zürich» für viele überraschend. Selbst in der Regierung waren sich zu Beginn nicht alle sicher, ob es eine solche überhaupt braucht. Deshalb haben wir viel darüber diskutiert. Was sehr wichtig und wertvoll war. Irgendwann waren wir uns alle einig, dass es in unserer Gesellschaft Orientierungspunkte braucht.

Weshalb?

Wie befinden uns mitten in einem gesellschaftlichen Experiment, das es so noch nie gegeben hat. Noch nie konnte man in seiner Lebensgestaltung und Werthaltung so frei unter so vielen Möglichkeiten wählen. Diese riesige individuelle Freiheit ist aber auch eine Herausforderung. Können wir damit umgehen?

In dieser Situation nehmen die Kirchen nach wie vor eine wichtige Aufgabe wahr, gerade weil sie Orientierungshilfen anbieten, sei es zu gesellschaftlichen Grundwerten, oder zu Sinn- und Lebensfragen. Wir sind in der Regierung zur Überzeugung gekommen, dass die Kirchen in dieser Hinsicht für Menschen mit oder ohne Glauben wichtig sind, selbst wenn man sich von ihnen abgrenzt. Sie bieten einen Raum der Auseinandersetzung mit zentralen Fragen der Gegenwart. 

Sie haben im vergangenen Jahr zu kaum einem anderen Thema so viele Reden gehalten wie zum Kirchenthema. Birgt das nicht die Gefahr, sich in Wiederholungen zu verlieren?

2018 wollte ich die Orientierung gut und breit kommunizieren. Da kam es natürlich zu einigen Wiederholungen. Wenn man aber meine Reden von 2015 bis heute anschaut, dann wird deutlich, dass sich meine Position stark geschärft hat. Ich habe heute ein sehr viel klareres Bild vom Verhältnis zwischen Kirche und Staat und von unserer Position im Kanton Zürich als noch 2015.

Die Reden entstehen im Team mit Inputs aus den Fachbereichen, der Kommunikation und natürlich vor allem auch meinen eigenen. Oft schlage ich vor, einen neuen Gedankengang in einer Rede auszuprobieren, um zu schauen, wie er funktioniert, ob er verstanden und angenommen wird. Manchmal versuche ich auch, in Diskussionsrunden etwas auszuprobieren. Wenn es gelingt, baue ich das dann in meine Reden ein.

Es gibt also Elemente, die ich über einen gewisse Zeitraum verwende. Aber mittelfristig werden sie alle immer wieder ersetzt durch die Reaktion auf neue Entwicklungen, durch Schärfungen, durch neue Überlegungen.

Wieviel Zeit zum Nachdenken bleibt Ihnen im Arbeitsalltag?

Dazu bleibt erstaunlich viel Zeit. Vor allem, weil ich diesbezüglich eine komplett entspannte Haltung habe. Mir ist es egal, wo mir etwas in den Sinn kommt, ob nun beim Wäscheaufhängen, beim Spazieren, beim Zugfahren, oder in einem Gespräch. Ich übe keinen Druck mit «Denkzeiten» auf mich aus, die ich dann unbedingt effizient nutzen muss. Ich lasse den Gedanken gerne freien Lauf und vertraue darauf, dass ich immer auf gute Ideen komme.

Auf der Website der Justizdirektion tauchen die Kirchen bei der Auflistung der Arbeitsbereiche nicht auf. Weshalb ist Ihnen dennoch gerade dieses Thema so wichtig?

Wir müssen vermeiden, dass sich Menschen in unserer Gesellschaft abgehängt und an den Rand gedrängt fühlen. Es gehört zu den Urbedürfnissen des Menschen, eine Rolle zu spielen, jemand zu sein, wahrgenommen zu werden, Zugang zu Entfaltungsmöglichkeiten zu haben. Und hier spielen die Kirchen – neben Vereinen und Parteien – eine wesentliche Rolle, weil sie oft gerade dort präsent sind, wo die rasche und erfolgsorientierte Welt nicht mehr so genau hinschaut.

Die Kirchen tragen zudem zur Orientierungsfähigkeit bei, weil sie die transzendentalen Fragen ansprechen, die Sinn- und Lebensfragen. Sie schaffen einen Raum, in dem man sich damit auseinandersetzen kann.

Sie selbst stehen keiner Kirche nah. Problem oder Vorteil?

Ich bin überzeugt, dass es ein Vorteil ist, dass ich zu allen Kirchen in ähnlicher Distanz stehe. Ich kann dadurch eine Systembetrachtung machen, die nur beschränkt mit meiner Geschichte und meiner Identität zu tun hat. Mich fasziniert das Phänomen, ich sehe das Potential, aber ich hänge da nicht selbst mit drin. Ich kann deshalb aus persönlicher Überzeugung sagen: Die Kirchen sind selbst für Nichtgläubige ein wichtiges Angebot, nur schon, weil sie den oben genannten Themen Raum geben.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Die Seelsorge. Natürlich habe ich viel Verständnis für Konfessionslose, wenn sie auch religiös neutrale Angebote fordern. Aber gleichzeitig ist es offensichtlich, dass ganz viele Menschen, die nicht einer Kirche angehören, in einem Krisenfall dennoch das Angebot der Kirchen suchen.

Und in diesen Fällen schätze ich die Offenheit der Kirchen sehr, eine Generosität, die es sonst in unserer Gesellschaft kaum mehr gibt, dass sie nämlich ihre Hilfe bedingungslos anbieten. Das schätze ich gerade als distanzierte Beobachterin besonders.

Nur gerade mal 5.5 % der Menschen in der Schweiz sind Muslime. Dennoch scheint die Angst vor dem Islam weit verbreitet. Wie erklären Sie sich das?

Ich bin überzeugt, dass hier die Distanz zur eigenen Religiosität und zur eigenen Religion eine entscheidende Rolle spielt. Die meisten Menschen haben heute ein sehr diffuses Verhältnis zu ihrer eigenen Religiosität. Irgendwie gehören sie zum Christentum, aber was das genau bedeutet, ist weitgehend unklar.

Dadurch entsteht viel Raum für Behauptungen und Idealisierungen ohne jeden historischen Hintergrund. Dann ist das Christentum plötzlich das reine Bekenntnis zum ewigen Frieden und der Islam das reine Bekenntnis zum ewigen Kampf. Die mangelhafte religiöse Grundbildung ist also ein grosses Thema, weil diese Unkenntnis zu vielen Projektionen führt.

Genau hier setzt das Fach «Religion und Kultur» an.

Ja, das ist eine Erfolgsgeschichte. Durch dieses Fach ist man sich nähergekommen, weil es um grundsätzliche Fragen des Lebens geht. Ich erfahre etwas von meinem Mitmenschen, das für ihn sinnstiftend ist. Damit entsteht in den Schulen auch ein Raum zum philosophischen Fragen und Nachdenken, was sonst eher zu kurz kommt. Allerdings steht es um die Fortsetzung dieses Dialogs an den Gymnasien und den Berufsschulen nicht so gut. Dort werden diese Fragen wieder eher an den Rand gedrängt.