Kirche aktuell

Katholiken in Zürich Aus der Geschichte lernen

Kaum einer kennt die Geschichte der Zürcher Katholiken so gut wie Historiker Max Stierlin. In einer Vorlesungsreihe an der Volkshochschule gibt er sein Wissen weiter und zeigt auf, wo alte Polarisierungen bis heute weiterwirken.
17. Januar 2022 Katholische Kirche im Kanton Zürich

An der Volkshochschule Zürich halten Sie Ende Januar eine Vorlesungsreihe zur Geschichte der Katholiken im Kanton Zürich. Ist das nicht einfach Geschichte von gestern? 

Die katholischen Einwanderer waren willkommen, wenn die Wirtschaft Arbeitskräfte brauchte. Kamen sie zuerst aus den katholischen Kantonen, aus Süddeutschland und dem Tirol, so wandern sie heute aus entfernteren Ländern ein. Sie haben ihre Verwandten zurückgelassen und müssen sich in der neuen Heimat ein soziales Netz aufbauen.

Was hat die Kirche damals geleistet, was für uns heute immer noch wegweisend sein könnte?

Die Kirche erkannte die Bedürfnisse der Migranten und kümmerte sich um diese. Dieses diakonische Wirken hatte Folgen und führte zur Gründung von Pfarreien. Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass eine Kirche dann überzeugt, wenn sie von den zeitgemässen Bedürfnissen ihrer Gläubigen ausgeht.  

1Von Pfarrei Heilig Kreuz - Archiv Pfarrei Heilig Kreuz, CC BY-SA 3.0, httpscommons.wikimedia.orgwindex.phpcurid=30619778 Heilig-Kreuz_Zürich-Altstetten_1900_Rohbau.jpg
Pfarrei Heilig Kreuz Rohbau um 1900 - Archiv Pfarrei Heilig Kreuz, CC BY-SA 3.0, wikimedia.org 30619778 Heilig-Kreuz_Zürich-Altstetten_1900_Rohbau

Sie gelten als profunder Kenner der Geschichte der Katholiken im Kanton Zürich. Wie kommt es, dass Sie ausgerechnet dieses Thema persönlich so beschäftigt?

Meine Eltern stammten aus dem Jura und vom Bodensee. Meine Biografie ist daher auch durch Integration in die Zürcher Kultur geprägt. Als Student habe ich die Weichenstellung und die Aufbruchsstimmung um das 2. Vatikanische Konzil und die staatliche Anerkennung der katholischen Kirche 1963 miterlebt. Als Historiker hat mich dann interessiert, wie der Zürcher Katholizismus entstanden ist. Meine Dissertation habe ich mit Unterstützung von Pfarrer Guido Kolb beim reformierten Zürcher Kirchengeschichtler Fritz Büsser und dem Historiker Urs Altermatt in Freiburg i.Ue. geschrieben.

Sie blicken auf viele Jahre Entwicklungen der katholischen Kirche im Kanton Zürich zurück. Welches waren die wichtigsten Etappen?

Nach 1800 wohnten nur wenige Katholiken im Kanton. Die liberale Umgestaltung nach 1830 brauchte Fachleute für Verwaltung, Bildung und Arbeiter für den Strassenbau und die Textilindustrie. Das katholische Kirchengesetz legte 1863 Grundlagen zum Aufbau der Diasporaseelsorge. Allerdings begann bereits damals die Polarisierung innerhalb der reformierten und katholischen Kirche zwischen einer traditionellen und einer zeitgemässen Ausrichtung, die bis heute fortwirkt.

...und die dann auch prompt zu Bruchstellen führte...

1873 brachte für die nächsten hundert Jahre einen Umbruch. Eine Versammlung der katholischen Kirchgemeinde Zürich lehnte das Unfehlbarkeitsdogma ab. Nach der Messfeier eines exkommunizierten «alt»katholischen Priesters verliess die «römisch» gesinnte Minderheit die Kirche auf eine Anordnung aus Chur, wonach diese nun entweiht sei, und gründete einen privatrechtlich organisierten Kulturverein. Diese Diasporapfarrei St. Peter und Paul wurde zum Modell für die weiteren neu gegründeten Pfarreien mit starker Einbindung der Gläubigen durch Vereine, Sozialwerke, Freizeitgestaltung und beruflicher Unterstützung. Das trugen Ordensleute und Priester aus den katholischen Stammlanden mit.

Und wo stehen wir heute?

Nach dem 2. Weltkrieg begann ein starker Wirtschaftsaufschwung. Die Bevölkerung wuchs, die Agglomeration entstand. Arbeitswelt, Freizeit und Familienformen änderten sich. Eine urbane Kultur entstand. Anderseits wanderten nun viele anderssprachige Arbeitskräfte aus dem ländlichen Südeuropa und der Dritten Welt ein.

Generalvikar Josef Annen segnet den Grundstein für die neue Mauritiuskirche in Bonstetten. Foto: Christian Murer
Generalvikar Josef Annen segnet den Grundstein für die neue Mauritiuskirche in Bonstetten. Foto: Christian Murer

Welche Rolle spielte denn das 2. Vatikanische Konzil für die katholische Kirche im Kanton Zürich?

Der kirchliche Aufbruch mit dem Konzil weckte viele Hoffnungen und ermöglichte mit dem Kirchengesetz von 1963 eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat.

Entwicklungen, die von den Bischöfen Haas und Huonder für Jahrzehnte zunichte gemacht wurden...

Das staatskirchenrechtliche duale System wurde von den Bischöfen Wolfgang Haas und Vitus Huonder abgelehnt, die ein traditionelles und zentralistisches Kirchenbild durchsetzen wollten. Die daraus entstehende Polarisation prägte für dreissig Jahre das kirchliche Leben. Der jetzige Bischof Bonnemain weckt die Hoffnung, diese Polarisierung zu überwinden.

Warum könnte Bischof Bonnemain eine Wende bringen?

Er setzt wieder klar auf eine Hinwendung der Kirche zu den Bedürfnissen und Nöten der Menschen und fordert eine grössere Hinwendung zur Diakonie.

Was ist Ihre persönliche Vision, wie sich die Kirche im Kanton Zürich und in der Gesellschaft überhaupt weiterentwickeln könnte?

Ich halte Historiker nicht für berechtigt, Visionen zu verbreiten.

 

Die Vorlesungsreihe «Geschichte der Katholiken im Kanton Zürich» findet am Donnerstag, 27. Januar, 3. und 10. Februar 2022, von 19.30 bis 21:00 Uhr an der Volkshochschule Zürich statt. Kurs: 21W-0350-75 V 

Biographisches

Max Stierlin studierte Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte in Zürich, Bern und Fribourg. Seine Dissertation schrieb er zur Geschichte der Zürcher Katholiken. Er war Lehrer in Mittel- und Berufsschulen, Dozent für Soziologie in Lehrgängen für Sozialarbeit, Pflege und Freizeit, sowie für Kulturgeschichte in der Erwachsenenbildung.

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Max Stierlin. Foto zVg