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Muhammad Haidari* war sechs Jahre lang auf der Flucht, allein. Seit er in Unterengstringen wohnt, hat er jemanden an seiner Seite: Beat Schweizer, seinen Partner im Mentoring-Tandem.
23. Juni 2022 Katholische Kirche im Kanton Zürich

 

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«Gehen wir heute in der Limmat schwimmen?» – Beat Schweizer fragt auf Hochdeutsch, spricht jedes Wort klar und etwas langsamer aus, aber mit einem herausfordernden Unterton. Er lacht dazu herzlich. Muhammad Haidari winkt ab: «Im Sommer», sagt er und lacht ebenfalls, etwas zurückhaltend zwar, dabei ruhig und selbst-bewusst. Regenwolken ziehen sich am Himmel zusammen. 

Beat Schweizer, Bürger von Unterengstringen, 50 Jahre alt, Verkaufsleiter bei einem Schweizer Unternehmen – und Muhammad Haidari, sie kennen sich seit vier Monaten und haben ein gemeinsames Projekt: Sie sind ein Mentoring-Tandem. Muhammad Haidari, 33 Jahre alt, möchte hier ankommen. Seit etwas mehr als acht Monaten lebt der Afghane nun in Unterengstringen, einer Gemeinde mit rund 4 000 Einwohnern, nahe Zürich. Er stammt aus Jaghori, einer Region mit 600 000 Einwohnern, 150 Kilometer südöstlich der afghanischen Hauptstadt Kabul. Zwischen Jaghori und Unterengstringen liegt seine Flucht, ein langer Weg von etwa sechs Jahren und von rund 6 800 Kilometern. 


Integrationsagenda will Zusammenleben fördern

Muhammad Haidari möchte hier ankommen. Er soll aber auch hier ankommen: und zwar möglichst leicht und möglichst schnell. Die kantonale Fachstelle für Integration befand, dass ein ortsansässiges und ortskundiges Gegenüber das Ankommen erleichtern würde – und hat 2021 das Tandemprogramm gestartet. «Bereits zuvor gab es Tandems in Städten oder dort, wo es ein starkes Freiwilligen-Netzwerk gibt», erklärt Priska Alldis, Leiterin der Fachstelle Flüchtlinge der Caritas Zürich. Zukünftig sollen Tandems im Kanton Zürich flächendeckend angeboten werden: für Geflüchtete, die Asyl erhalten haben (Status B), für vorläufig Aufgenommene (Status F) und seit kurzem auch für Menschen mit Schutzstatus (Status S). 

Im Hintergrund dieser Massnahme steht die Integrationsagenda, auf die sich Bund und Kantone im Jahr 2019 geeinigt haben – und im Rahmen derer auch mehr finanzielle Mittel für die Integration zur Verfügung stehen. Die Idee: Tandem-Partnerinnen und -Partner sind Freiwillige, und es sind professionell agierende Organisationen vor Ort, die diese Tandems organisieren und begleiten. Die Caritas Zürich ist solch eine Organisation. Sie hat zusammen mit der evangelisch-reformierten Landeskirche die Trägerschaft für das Projekt übernommen – in einer der fünf Regionen, in die der Kanton Zürich dafür aufgeteilt wurde. In der Region Dietikon, zu der Unterengstringen gehört, wird das Tandem-Projekt vom VSJF, dem Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen, koordiniert. 


Bibliothek und Mathe-App

Weil über Unterengstringen weiter die Regenwolken ziehen, haben sich Muhammad Haidari und Beat Schweizer entschieden, in die Bibliothek zu gehen. Sie ist gleich bei jenem Schulhaus, das der alteingesessene Unterengstringer einst besuchte und später dann seine Töchter. Auch für den Neuzuzüger hat dieser Ort eine Bedeutung bekommen: «Ich kann jetzt mehrmals in der Woche hierherkommen, ich kann gratis Bücher ausleihen, um Deutsch zu lernen.» Er konnte sich dank seines Tandem-Partners für den Ausweis anmelden. Die Anmeldung bei der Autonomen Schule Zürich haben die beiden ebenfalls gemeinsam gemacht. Haidari geht nun am Nachmittag zum Deutschkurs und besucht einen Computerkurs.

Bis die Bibliothek öffnet, setzen sich die beiden unter das Vordach und nützen die gemeinsame Zeit, um Mathe zu lernen. Haidari hat dazu eine App auf seinem Handy, die ihm Aufgaben in den Grundrechnungsarten stellt. «Multiplizieren haben wir zusammen gelernt, das geht schon gut», erzählt Beat Schweizer, nicht ganz ohne Stolz. «Jetzt sind wir beim Dividieren, da brauchen wir noch ein bisschen Zeit.»

Auch an längerfristigen Zielen wollen die beiden als Mentoring-Tandem arbeiten. «Deutsch lernen, Fahrausweis bekommen, eine Lehre machen», sagt Haidari. Vor allem das, eine Lehre machen zu können, ist sein Traum, «unbedingt». Seit Beat Schweizer und er begonnen haben, online die Berufsmöglichkeiten zu durchforsten, nimmt dieser Traum auch schon konkretere Formen an.


Professionell «gematched» und begleitet

Dass die beiden als Tandem zusammengefunden haben, verdanken sie Rina Lombardini, der Projekt-Koordinatorin beim Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen VSJF. Nach Erstgesprächen mit möglichen Freiwilligen und mit Geflüchteten im Bezirk Dietikon «matched» sie die Tandems, führt sie zusammen. «Dass ein Matching klappt, hat viel mit den Bedürfnissen der Einzelnen zu tun», erzählt sie. Muhammad Haidari sei es wichtig gewesen, mit einer Person zusammenzukommen, die tatsächlich vor Ort lebe, erinnert sie sich. «Und mit der er Deutsch und Mathematik lernen kann.» 

Lombardini wird die beiden auch weiterhin begleiten: bei regelmässigen Standortgesprächen und jederzeit als Ansprechperson. «Die Freiwilligen und die Geflüchteten sollen spüren, dass sie nicht alleingelassen werden.» Beat Schweizer nützt diese Möglichkeit zum Austausch: «Wenn ich Frau Lombardini nach einem Treffen mit Muhammad ein kurzes Mail schreibe, dann sortiere ich dabei die Gedanken. Vieles ist ja neu für mich und so habe ich Sicherheit, dass ich es wahrscheinlich ganz gut mache.» 

Er verweist noch auf etwas anderes: «Diese persönlichen Treffen öffnen den Blick weit und ich sehe das Leid und die Ungerechtigkeiten. Ich merke, dass ich mich emotional immer wieder mehr involviere, als ich ursprünglich dachte.» Gerade auch dafür sei ein offenes Ohr wichtig. Denn die Freiwilligen stehen unter Schweigepflicht, können nicht einfach Freunden von den Erlebnissen mit ihrem Tandem berichten.


Eine Frage des Erfolgs

Als Pilotprojekt läuft das Tandemprogramm im Kanton Zürich bis Ende 2023. Dann wird die kantonale Fachstelle Integration entscheiden, ob die Tandems als Strategie für die Integration im Bereich Zusammenleben weitergeführt werden. Dafür werden die einzelnen Trägerschaften entsprechend Rechenschaft ablegen und den Projekt-Verlauf dokumentieren. 

Eine, die davon überzeugt ist, dass Tandems Sinn machen, ist Dodo Karrer. Sie sammelt schon seit 2016 unmittelbare Erfahrungen in einem Tandem – und koordiniert nun auch das Tandemprojekt in der Gemeinde Wald ZH, im Bezirk Hinwil, für die ökumenische Trägerschaft von Caritas und reformierter Landeskirche. Dodo Karrer sagt: «Die Umsetzung der Tandems via Kirchgemeinden und Pfarreien oder durch nichtstaatliche Akteure scheint mir ganz smart zu sein.» Warum? «Ich habe bemerkt, dass geflüchtete Menschen nicht selten Hemmungen haben, ins Gemeindehaus zu gehen. Es macht sie unsicher, wie frei sie sich dort bewegen können und was zum Beispiel ans Sozialamt weitergemeldet werden könnte. Bei der Kirche habe ich diese Berührungsängste nicht wahrgenommen.» 

Auch die emotionale Seite eines Tandems sei nicht zu unterschätzen, nämlich eine Bezugsperson zu haben, mit der sich eine Beziehung aufbauen liesse. «Ich erlebe Menschen, denen rinnen die Tränen über die Backen, nur schon, wenn ich sie darauf anspreche, ob sie nicht jemanden brauchen könnten, der sie unterstützt. Ich glaube, diese bewusste Aufmerksamkeit, die sind viele Geflüchtete nicht gewohnt.»

Fragt man Muhammad Haidari nach einem Erlebnis, das er so schnell nicht vergessen wird, sagt er: «Ich bin nun sechs Jahre unterwegs und unterwegs hat mir niemand geholfen. Ich habe niemanden, keine Familie in Europa. Einmal habe ich Beat gefragt, ob er Zeit hat – und Beat hat gesagt: Ich habe immer Zeit für dich.»

*Name von der Redaktion geändert.

Text: Veronika Jehle