Aktuelle forum-Ausgabe 200 Jahre Sebastian Kneipp
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Wenn ich Kneipp höre, denke ich an Menschen, die durch eiskaltes Bachwasser waten, und an meinen Vater, der seit Jahrzehnten auf frühmorgendliche Wechselduschen schwört. Kneipp = Wasser – eine Gleichung, die wohl die meisten von uns machen. Dass Wassertherapie nur eine der insgesamt fünf Säulen ist, auf denen die Methoden des deutschen Seelsorgers beruhen, zeigen mir Rosmarie Schoch und Elisabeth Scheiwiller. Die beiden Gesundheitsberaterinnen engagieren sich im Vorstand des St. Galler Kneippvereins, der mit 125 Jahren nicht nur die älteste, sondern mit über 330 Mitgliedern auch die grösste Schweizer Kneipporganisation ist.
Eigentlich wollte ich mich oberhalb von St. Gallen bei den Drei Weieren von den beiden Spezialistinnen in die Lehren von Sebastian Kneipp einweihen lassen. Aber weil dort gerade die Kneipp-Anlage saniert wird und das Wetter sich am Interviewtermin noch nicht von seiner frühlingshaften Seite zeigen will, verwandelt Rosmarie Schoch kurzerhand ihre Wohnung in Gais in eine kleine Kneipp-Oase. Die quirlige 79-Jährige schwört seit über zwanzig Jahren auf die Methoden des Wasserpfarrers. Sie freut sich, dass sie seit zwei Jahren sukzessive ihr Wissen an Elisabeth Scheiwiller aus Lenggenwil weitergeben kann. Beide sind diplomierte Kneipp-Gesundheitsberaterinnen und haben die Kräuterakademie in Salez absolviert.
Als Erstes heisst es für mich Ärmel hochkrempeln. Ein erfrischendes Armbad steht auf dem Programm. «Das fördert die Durchblutung von Herz, Bronchien und Lunge und weckt die Lebensgeister nach einem üppigen Essen mindestens so effektiv wie ein Espresso», erklärt Elisabeth Scheiwiller. Oberstes Gebot bei den Wasseranwendungen ist, dass die jeweiligen Körperteile warm sind. Wer vor der Behandlung schon fröstelt, schockt und überfordert den Organismus. «Elementar ist, dass man langsam mit den Abhärtungsübungen beginnt. Durch regelmässiges Training kann die Intensität allmählich gesteigert werden», so die Gesundheitsberaterin. Weiter sollte darauf geachtet werden, dass man stets jene Körperteile zuerst ins Wasser taucht, die am weitesten vom Herzen entfernt sind. Das heisst für mich, dass ich ausatmend und mit den Fingerspitzen voran zuerst den rechten Arm ins Becken tauche. Als ich die Arme leicht zu kreisen beginne, wird die Kälte noch intensiver spürbar. Nach ein paar Sekunden kribbelt es zünftig. Ich beende das Bad, indem ich das Wasser mit den Händen von den Armen abstreife und sie anschliessend sofort wieder mit den Blusenärmeln bedecke. Bereits wenig später fühlen sich meine Arme wohlig warm an und ich spüre die vitalisierende Wirkung.
Nach der Wasseranwendung kommen wir zur «Bewegung» – ein weiterer Pfeiler der ganzheitlichen Kneipp-Philosophie. Mit gestreckten Zeigefingern und Armen zeichne ich unter Anleitung von Elisabeth Scheiwiller lebensgrosse Zahlen in die Luft. Dass ausreichende Bewegung die Gesundheit fördern soll, stellte für viele Zeitgenossen Kneipps ein Novum dar. Wer es sich leisten konnte, war auf möglichst wenig Bewegung bedacht. Eine Entwicklung, die Kneipp wohlweislich kritisch bewertete.
Getreu dem kneippschen Zitat «Unser Herrgott hat für jedes Leiden ein Kräutlein wachsen lassen» zeigt mir Elisabeth Scheiwiller auf, wie vielfältig die Apotheke vor unserer Haustüre sein kann. Oftmals als Unkraut verkannt, sind viele Pflanzen bezüglich Heilwirkung um einiges intensiver als beispielsweise Kopfsalat oder Radieschen. Elisabeth Scheiwiller selbst litt jahrelang aufgrund einer Autoimmunkrankheit unter Adipositas. Infolgedessen begann sich die fünffache Mutter mit vollwertiger Ernährung auseinanderzusetzen. Mittlerweile stellt die 54-Jährige selber naturbelassene Kräutersalze, Tees, Salben und Tinkturen nach dem Vorbild von Kneipp her. Sie verfolgt bei der gesunden Ernährung aber keinen missionarischen Ansatz: «Ich betone in meinen Kursen oft, dass kleine Schritte hin zu einer gesünderen Lebensweise immer noch um ein Vielfaches besser sind als kompletter Stillstand.»
Eine der anspruchsvollsten Kneipp-Säulen ist die «Lebensordnung». «Unser Leben braucht Ordnung, einen vernünftigen Rhythmus zwischen aktiver Leistung und ausgleichenden Ruhezeiten. Wenn unsere Seele nicht im Lot ist, sind körperliche Beschwerden meist nicht weit», weiss Rosmarie Schoch. Im sozialen Bereich fordert die Kneipp-Lehre Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe. Zudem hat Pfarrer Sebastian Kneipp die Religion als Lebenshilfe und Energiequelle in die Lebensordnung miteinbezogen.
Bei Johanniskrauttee und mit Wiesenkräutern garnierten Brötchen sprechen Rosmarie Schoch und Elisabeth Scheiwiller über ihr Engagement im Kneippverein St. Gallen: «Obwohl Kneipp mit seiner ganzheitlichen Philosophie voll und ganz dem Zeitgeist entspricht, kämpfen wir wie viele andere Kneippvereine auch mit sinkenden Mitgliederzahlen. Noch vor zehn Jahren zählten wir über 1000 Mitglieder, aktuell sind es noch 330», bedauert Rosmarie Schoch. Nichtsdestotrotz wird allein im deutschen Sprachraum in rund 210 000 Haushalten regelmässig gekneippt. Damit sind die Kneipp-Verbände laut WHO eine der grössten Gesundheitsorganisationen auf der Welt. «Neben Fixpunkten wie unseren Mittwochtreffen, Wanderungen sowie Wassergymnastik- und Aqua-Fit-Lektionen organisieren wir vielseitige Kurse und Vorträge rund ums Thema Gesundheitsförderung», hält Rosmarie Schoch fest.
Text: Rosalie Manser, Pfarreiforum St. Gallen
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