Erinnerungen an Prof. Ernst Spichtig Impulsgeber für praxisnahe Theologie
Ernst Spichtig war für mich ein «leiser Mensch» – ein Priester, der durch seine Bescheidenheit und Gelassenheit auffiel. Ich lernte ihn während meines Theologiestudiums (1999/2004) in Chur kennen. Er war hier als Spiritual am Priesterseminar der Theologischen Hochschule Chur und Honorarprofessor für Pastoraltheologie tätig.
Zu dieser Zeit war er bereits 70 und noch immer eine leise, aber menschlich zugewandte Persönlichkeit. Er hat mir - und einer ganzen Generation von Studierenden davor - mit seinem Pioniergeist sowohl im Studienfach und seiner Ermutigung für neue Wege in der Praxis, imponiert.
Theologie muss in der Praxis leben
Ernst Spichtig hat mir auf fachliche, aber auch sehr subtile Weise gezeigt, dass Theologie immer auch in der Praxis leben muss. Sein Buch «Praktische Theologie im Dialog» zeigt sein Vermächtnis an. Die Theorie ist wichtig, aber sie entfaltet ihre wahre Kraft erst, wenn sie in der Begegnung mit den Menschen, in der Seelsorge und im Alltag umgesetzt wird.
Besonders prägend war für mich seine Fähigkeit, das «Antlitz Gottes» in den alltäglichen Begegnungen erfahrbar zu machen. In seinem Umgang mit den Menschen zeigte er immer wieder, wie wichtig es ist, den anderen mit Respekt und Wohlwollen zu begegnen. In seiner Präsenz konnte man den Glauben nicht nur hören, sondern auch fühlen. Seine Form der Seelsorge war ein lebendiger und sehr praktischer Ausdruck von Gottes Nähe.
Blick über den Tellerrand
Ernst Spichtig war ein Brückenbauer zwischen Theorie und Praxis. Er verstand es, die Studierenden und angehenden Seelsorgenden sowohl intellektuell als auch menschlich zu fördern. Mein Mann war damals, 2002, im Einführungsjahr als Pastoralassistent in der Pfarrei Liebfrauen in Zürich. Dort wirkte Ernst Spichtig ebenfalls nach seiner Emeritierung weiterhin als Seelsorger.
Für ihn war es immer wichtig, dass die theologische Ausbildung nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz erreichte. Besonders der Praxisbezug in der Ausbildung, der direkte Kontakt mit den Menschen, die immer wiederkehrende Einladung zur Reflexion des eigenen Handelns in der Seelsorge – all das war ihm ein Anliegen. Er war ein Mann, der die Menschen ermutigte, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, ihre Berufung als Seelsorgende ernst zu nehmen und in einer dynamischen und oft herausfordernden Welt Gottes Nähe zu vermitteln.
Sein Vermächtnis
Von Ernst Spichtig bleibt vor allem die Erinnerung an seine unaufdringliche, aber äusserst wirkungsvolle Art der Begleitung. Seine Ermutigung und Unterstützung sind für viele von uns in der Theologischen Ausbildung unvergesslich. Es war nicht nur seine Fachkompetenz, sondern seine Menschlichkeit, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Für viele angehende Theologinnen und Theologen war er ein wichtiger Mentor, der uns nicht nur in Fragen der Theologie, sondern auch in der Seelsorge auf unserem Weg begleitet hat. Besonders seine Art der Wertschätzung – das ruhige, aber sehr klare Bestärken der Studierenden – hat uns gezeigt, dass die Kirche nicht nur eine Institution ist, sondern auch ein Raum der persönlichen Begegnung und des Wachstums.
Ort des Zusammenhalts
Ernst Spichtig beschäftigte sich immer wieder mit der Frage, wie die Kirche und ihre Seelsorgenden glaubwürdig in einer sich schnell verändernden Gesellschaft wirken können. Priester und Laien zusammen! In einer Welt, die zunehmend von Entfremdung und Individualismus geprägt ist, war ihm die Herausforderung wichtig, wie Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden auch in Zukunft ein Ort der Begegnung und des Zusammenhalts sein kann.
Die Frage, wie wir als Kirche eine heilende und einladende Kraft in der Welt sein können, ist nach wie vor von zentraler Bedeutung. Es bleibt die Herausforderung, das Evangelium in einer Weise zu verkünden, die den Menschen nicht nur den Glauben näherbringt, sondern auch ihre Lebensrealität berücksichtigt. Wie können wir als Kirche in einer Zeit der Krise und der Veränderungen Menschen in ihrer Existenz ansprechen, ohne ihnen unsere Antworten von oben herab zu verordnen? Diese Frage, die in seiner Arbeit immer wieder auftauchte, bleibt weiter offen.
Laudatio von Eva-Maria Faber von der THC.
Ernst Spichtig wurde 1934 in Sachseln geboren und studierte in Chur Theologie. Seine Vikarsjahre absolvierte er in Altdorf. Danach qualifizierte er sich in Freiburg und München durch ein Soziologiestudium und ein Lizentiat in Theologie weiter und wirkte dann von 1970 bis 1995 als Professor für Pastoraltheologie. Wie Franz Annen 1995 zur Demission von Ernst Spichtig erinnert, war für dieses Fach einige Aufbauarbeit zu leisten, da es im Fächerkanon zuvor nur geringe Bedeutung hatte und erst durch die Impulse des Konzils und den Einbezug der Humanwissenschaften Aufwertung und Ausweitung erfahren hatte. Vor seinem Tod war Spichtig noch ein Jahr im Pflegeheim Sachseln (Felsenheim) wohnhaft, wo er noch bis zum Schluss die Gottesdienste besuchte. Obschon von Demenz gezeichnet, ging er nach der Messe immer in die Pfarrei und lobte den praktisch-theologischen Besuch. Er sagte auch immer wieder, wenn es ihm besser gehen würde, würde er wieder konzelebrieren.
Eva-Maria Faber THC / Sabine Zgraggen
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