Podiumsdiskussion zur Missbrauchsstudie in der Paulus Akademie «Die Kirche sitzt auf der Anklagebank»
Betrat man den Saal, der für eine Rekordkulisse von 150 Personen gestuhlt war, war klar: Das Thema hatte auch zwei Wochen nach der Veröffentlichung der Vorstudie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche nichts an Brisanz verloren.
«Das heikle Thema Übergriffe kann bei allen immer etwas auslösen», betonten Veronika Bachmann von der Paulus Akademie und forum-Co-Chefredaktorin Veronika Jehle. Darum waren unter den Zuhörenden auch zwei Vertreter der Opferhilfe, die am Schluss der Tagung für Gespräche zur Verfügung standen.
Probebohrungen und Fundstücke
Den Anfang machte Lukas Federer, einer der Co-Autoren der Vorstudie, der noch einmal einen Einblick und eine Zusammenfassung der Resultate aufzeigte. Seine Aussage, dass sie erst Probebohrungen gemacht und dabei verdichtete Spuren von Missbrauch gefunden hätten, stellt die schon so schockierenden Zahlen wieder einmal in ein anderes Licht. Es ist zu erwarten, das die Folgestudie zehnfache Zahlen traurige Realität werden lassen.
Bei der Podiumsdiskussion kamen unter der Leitung von Lea Burger, Fachjournalistin Religion beim Schweizer Fernsehen, Bischof Joseph Maria Bonnemain, Prof. Lea Holenstein, Stefan Loppacher und Vreni Peterer zu Wort. Drei von vier haben in den letzten Wochen bereits ein paar Mal die Klingen gekreuzt. Das merkte man kaum, da die Moderatorin die Diskussion mit einer Befindlichkeitsrunde begann. Vreni Peterer, die Vertreterin der Betroffenen, erzählte, dass es ihr nicht gut gehe. Sie hatte sich am Wochenende mit ihren Geschwistern getroffen und musste erfahren, dass ihr jüngerer Bruder ebenfalls vom gleichen Täter missbraucht wurde wie sie selbst. Er hatte jetzt erstmals darüber gesprochen. Das ganze Dorf hätte es gewusst, dass etwas mit dem Pfarrer nicht stimmt. Und auch die Lehrer hätten diesen gedeckt. Jetzt sei die ganze Dorfgemeinschaft, die Gesellschaft gefordert. Diese sehr berührende und persönliche Aussage blieb als Mahnung für einen zukunftsgerichteten Dialog im Raum stehen und liess alle für einen Moment sprachlos. Sie hätte zunächst daran gezweifelt, ob sie am Podium teilnehmen könne. Aber gefasst und entschlossen meinte sie: «Ich habe Kraft, um hier zu sitzen als Sprachrohr für Betroffene.»
Präventionsarbeit auf die Agenda
Stefan Loppacher, Präventionsbeauftragter des Bistums Chur, konnte von vielen positiven Rückmeldungen berichten, die ihn erreichten. Es werde gezeigt, dass das Thema endlich angegangen werde. Er forderte einen klaren Kulturwandel, ein klares Bekenntnis zu gemeinsamen Werten. «Uns sind die Menschen wichtig», könne man nicht mehr sagen, wenn das Kirchenrecht über die Menschen gestellt würde. Präventionsarbeit gehöre zuoberst auf die Agenda. «Es geht darum, jede Begegnung innerhalb der Kirche symmetrisch zu gestalten. Fachleute müssen ihre Arbeit unbehindert machen können, auch wenn es nicht systemkonform ist», sagte er. Jetzt brauche es eine Revolution, jetzt müsse die Basis für einen Wandel kämpfen und sich organisieren.
Bischof Joseph Bonnemain wurde gefragt, mit wem er seine Nöte bespreche. Die Antwort, dass er sich vorallem mit seinen Brüdern im Amt austausche, zeigte gut auf, wie exponiert er im Moment ist. Ihm sei bewusst, dass die Kirche auf der Anklagebank stünde und das mache ihm zu schaffen. Er wünsche sich eine «Revolution ohne Revolution» und setzt immer noch auf Dialog, auch mit dem Churer Priesterkreis. Dazu entgegnete Loppacher gleich, dass es auch einen Realitätscheck brauche. «Sich an solche Narrative zu halten ist Teil des Problems», ist er überzeugt. Als einzige Person, die noch nicht in einer Runde zu diesem Thema aufgetreten ist, brachte Lea Hollenstein eine erfrischend neue Perspektive und Meinung ein. «Ich merke, dass ehrlich mit den Massnahmen gerungen wird. Ich habe aber auch Angst, dass sich nicht wirklich etwas verändert», äusserte sie sich. Vielmehr brauche es heute den Mut zu grundlegenden Änderungen, zum vielbeschworenen Kulturwandel. Für diese Aussage erhielt sie grosse Zustimmung vom Publikum.
Die erste Runde auf dem Podium drehte sich um die Massnahmen, welche die Bischofskonferenz (SBK), die römisch katholische Zentralkonferenz und die Vereinigung der Orden ergreifen wollen und die zusätzlichen Massnahmen, welche die SBK nach ihrer Vollversammlung kommuniziert hat. Das honorierten alle, aber bemängelten, dass das ganze Paket noch zu wenig sei. Lea Hollenstein stellte in den Raum, dass in der ganzen Frage der Meldestellen ein Ort fehlt, in der es auch um Krisenintervention geht, wo nicht nur Meldungen aufgenommen werden, sondern auch aktiv geholfen wird. Und eine Stelle, die kirchlichen Mitarbeitenden hilft, mit den Strukturen anders umzugehen bzw. sie zu verändern.
Melde- oder Anlaufstelle?
Es entwickelte sich eine lebhafte Diskussion, wie eine Anlaufstelle aussehen könnte und sollte. Positiv war, das Bischof Josef klare Aussagen machte, dass man mit Betroffenenorganisationen und Fachstellen seit zwei Wochen in der Planung ist. Auf Nachfrage hin konnte er aber keinen Termin nennen. Dieses Nicht-Wissen, bis wann konkret etwas zu erwarten ist, hat das Podium und die Zuhörenden am meisten beschäftigt. Sie unterstützten daher das Statement von Vreni Peterer, die sagte: «Ich kann nicht verstehen, dass man es auf den 12. September hin nicht geschafft, eine solche Anlaufstelle bereit zu stellen.»
Im weiteren Verlauf waren dann die nicht mehr zeitgemässe Sexualmoral der katholischen Kirche, die sich nicht dem heutigen Stand der Wissenschaft anpasse und die Moralvorstellung vor die Menschen stelle, und die Frage nach einem kirchlichen nationalen Strafgericht Thema. Auf die Frage, ob die Schweiz überhaupt genug qualifizierte Personen dafür hätte, wurde die Idee, sich einem solchen Gericht in Deutschland anzuschliessen, das schon im Entstehen ist, aufgegriffen. So könnte auch die Realisierungszeit verkürzt werden.
Wie intensiv das Thema beschäftigt, war spätestens zu Beginn der Fragerunde klar. Aus dem Publikum kamen vorallem Voten, die Verbindlichkeit einforderten und auch Unverständnis äusserten über das zaghafte Vorgehen der Bischöfe.
Nachdem Vreni Peterer mit ihrem Eingangsstatement den Rahmen für die Diskussion öffnete, hielt sie auch ein bemerkenswertes Schlusswort: «Ich wünsche mir und setze mich dafür ein, dass es einen gemeinsamen Weg gibt, den wir als katholische Kirche gehen müssen. Betroffene mit den Bischöfen, Gläubigen und Mitarbeitenden. Zum Wohl der Menschen und der katholischen Kirche.»
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