Syrische Christen in Sorge nach dem Sturz des Assad-Regimes «Christliche Minderheiten sind besonders gefährdet»
Wie viele Christen leben heute noch in Syrien, und wie viele waren es früher?
Silvia Stefanos: Vor dem Krieg etwa anderthalb bis zwei Millionen, heute leben schätzungsweise nur noch etwa um die 500.000 Christinnen und Christen im Land. Der Krieg und die unsicheren Lebensbedingungen haben viele zur Auswanderung gezwungen. Besonders seit dem Beginn des Konflikts sind viele Christen nach Europa, Nordamerika oder in den Libanon geflüchtet. Der Exodus hat die christliche Gemeinschaft verkleinert, und es gibt die Sorge, dass sie in naher Zukunft weiter schrumpfen wird. Die fortwährende Instabilität und die unsicheren Perspektiven im Land treiben immer noch viele zur Flucht.
Welche christlichen Kirchen sind in Syrien präsent?
In Syrien gibt es eine Vielzahl christlicher Kirchen, die eine lange Tradition im Land haben. Neben der Syrisch-Orthodoxen Kirche, der ich angehöre, sind auch die Griechisch-Orthodoxe Kirche, die Maronitische Kirche, die Armenisch-apostolische Kirche, die katholische Kirche (einschließlich der römisch-katholischen und der chaldäischen Kirche) und verschiedene protestantische Kirchen in Syrien vertreten. Diese Kirchen haben im Laufe der Jahrhunderte das religiöse und kulturelle Leben des Landes mitgeprägt und tragen zur religiösen Vielfalt bei, die Syrien traditionell auszeichnet.
Die westlichen Politiker jubeln über den Fall Assads, unsere Medien feiern das Ende seines Regimes. Sind Sie auch in Feierlaune?
Es ist verständlich, dass der Sturz eines autoritären Regimes in einigen Teilen der Welt als ein Triumph für Freiheit und Demokratie gefeiert wird. Doch aus der Perspektive einer syrischen Christin, die aus einer religiösen und ethnischen Minderheit stammt, ist diese Freude mit Vorsicht zu genießen. Die Situation in Syrien ist viel komplexer. Der Sturz eines Regimes kann zwar Veränderungen mit sich bringen, aber in einem Land wie Syrien, das religiös und ethnisch so vielfältig ist, ist es auch ein Risiko.
Inwiefern ein Risiko?
Wenn wir uns die Geschichte des Nahen Ostens ansehen, insbesondere das, was nach dem Sturz von Saddam Hussein im Irak passiert ist, müssen wir bedenken, dass christliche Minderheiten im Machtvakuum oft besonders gefährdet sind. Wir hoffen, dass Syrien nach Assad in Frieden und Stabilität lebt, aber die Erfahrungen aus anderen Ländern lassen uns vorsichtig bleiben. Der Weg zum Frieden ist immer noch unklar, und der Verlust des Assad-Regimes könnte, wenn wir nicht vorsichtig sind, auch zu einem erneuten Konflikt führen.
Wer sind denn die möglichen Konfliktparteien?
Das ist eben noch sehr unübersichtlich. Einerseits die islamistischen Rebellen, die aus dem IS hervorgegangen sind. Dann ist der Einfluss der Türkei noch stärker geworden. Welche Rolle Israel spielen wird, ist ebenfalls offen. Und es gibt noch die Kurden, die auch an der Macht beteiligt sein wollen.
Wie ist die Stimmung unter den Christen vor Ort?
Die Christen sind zwiegespalten. Viele sind besorgt, dass der Zusammenbruch des Regimes zu einem Machtvakuum führen könnte, das von extremistischen Kräften ausgefüllt wird. Unter einigen Christen gibt es auch Hoffnung, dass eine neue politische Ära kommen könnte, die mehr Freiheit und Gerechtigkeit bringt. Doch insgesamt überwiegt die Unsicherheit. Die Ängste um die Sicherheit und die Zukunft der christlichen Gemeinschaft bleiben groß, und viele fragen sich, wie das Land ohne Assad weiter existieren wird.
Wie frei waren die Christen unter Assad?
Die Christen genossen eine Religionsfreiheit, die in vielen Bereichen des Lebens ungestört praktiziert werden konnte. Anders als in anderen Ländern wurden nicht nur historische Kirchen geschützt und bewahrt, sondern auch neue Kirchen, Institutionen wie christliche Altersheime, Schulen etc. gebaut. Sie konnten frei ihre religiöse Feste feiern, ihre Traditionen wahren und offen ihre Symbole zeigen. Natürlich war diese Freiheit immer innerhalb der Grenzen einer autoritären Regierung, die keine politische Opposition zuließ. Aber wir sprechen davon, wie es Christen mit ihren religiösen Rechten ging und da kann man sagen, dass sie relativ sicher in ihrer Religionsausübung waren.
Haben die Christen mehrheitlich Assad unterstützt, trotz der schlimmen Verletzungen der Menschenrechte, die unter seiner Regierung verübt wurden?
Viele Christen haben Assad unterstützt, weil sie glaubten, dass seine Regierung der einzige Schutz vor extremistischen Kräften war. Die Christen in Syrien sahen Assad als einen Art Garant für ihre Sicherheit, da er das Land kontrollierte und religiöse Minderheiten in gewisser Weise schützte. Ich kann nicht für alle Christen sprechen, aber in meinem Umfeld war diese Unterstützung oft pragmatischer Natur.
Trauen Sie den versöhnlichen Worten der neuen Machthaber?
Ich bin vorsichtig und warte ab.
Was ist Ihre Hoffnung für Syrien?
Meine größte Hoffnung ist Frieden und ein sicheres Zuhause für unsere wenigen verblieben Urchristen im Nahen Osten.
Wie kann ein friedliches Zusammenleben aller ethnischen und religiösen Volksgruppen gelingen?
Jede Gruppe muss in der neuen syrischen Gesellschaft gleichberechtigt respektiert werden. Es ist wichtig, dass der Staat die Rechte aller seiner Bürger garantiert und für eine faire und inklusive Gesellschaft sorgt. Das erfordert eine wirkliche politische und soziale Reform, die sicherstellt, dass Minderheiten, insbesondere die Christen mit ihrer Jahrtausende alten Geschichte, nicht nur toleriert, sondern als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden und mitbestimmen können.
Silvia Stefanos, 1960 geboren im mesopotamischen Grenzgebiet zwischen Syrien, Irak und der Südosttürkei, später aufgewachsen in Deutschland, lebt seit iseit 1980 in der Schweiz. Die syrisch-orthodoxe Christin ist Co-Präsidentin des Verbands der Orthodoxen Kirchen im Kanton Zürich.
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